Berlin. Ein „radikales Umsteuern“ fordert der Hausärztinnen- und Hausärzteverband in der Gesundheitsversorgung, machten die Bundesvorsitzenden Prof. Nicola Buhlinger-Göpfarth und Dr. Markus Beier in ihrer Rede zum Auftakt des 46. Hausärztinnen- und Hausärztetages am Donnerstag (18.9.) in Berlin deutlich. „Dies betrifft sowohl die Versorgungsstrukturen unseres Gesundheitswesens als auch die Arbeitsorganisation in unseren Praxen“, sagte Beier.
Die jüngsten Entscheidungen der Selbstverwaltung hätten gezeigt, dass die Selbstverwaltung „Teil des Problems und nicht Teil der Lösung“ sei. Die hausärztliche Entbudgetierung habe der Verband „quasi im Alleingang“ und teils gegen Widerstände in der Selbstverwaltung erkämpft. Sie bringe den Hausarztpraxen rund 300 Millionen „frisches Geld“.
Die jüngste Einigung zum Orientierungwert, der 2026 um 2,8 Prozent steigen wird, nannte Beier abermals “enttäuschend”. Die Regeln, die den Honorarverhandlungen zugrunde liegen und diesen feste Vorgaben machten, müssten angepasst werden, um die Kostensteigerungen für Praxen adäquat abbilden zu können.
Scharfe Kritik an Vorhaltepauschale
Die Umsetzung der Vorhaltepauschale habe die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) „de facto verweigert“ und feiere sich für den Stillstand, kritisierten die Bundesvorsitzenden. Über 92 Prozent des Honorars, das über die bisherige 03040 EBM verteilt wird, werde nicht angefasst. So sei die Chance verpasst worden, zugunsten der kleinen voll hausärztlich tätigen Praxen umzuverteilen. Korrekturen seien zudem nötig, weil in bestimmten Fällen die HZV-Fälle nicht mitgezählt würden, erklärte Beier. Mit gravierenden Folgen sei in der Regel nicht zu rechnen, dennoch dränge der Verband darauf, dass der Gesetzgeber dies korrigiere.
Mit einem spontanen, vergleichsweise emotionalen Redebeitrag stemmte sich Beier gegen den “absoluten Controlling-Wahnsinn”, den die Vorhaltepauschale in der Praxis bedeute. “Impfungen müssen dann gemacht werden, wenn sie medizinisch wertvoll sind – nicht orientiert an der Schwelle von Prozentwerten!”, so Beier.
Angesichts dessen „erscheint es geradezu utopisch, dass dieselben Akteure, die bereits an verhältnismäßig übersichtlichen Reformen scheitern, in Zukunft ein gut strukturiertes hausärztliches Primärarztsystem auf die Beine stellen“, betonte der Hausärztechef. Die Selbstverwaltung sei mit dieser Aufgabe überfordert.
“Finger weg vom Paragrafen 73b!”
Co-Bundesvorsitzende Buhlinger-Göpfarth erteilte Vorschlägen von KBV oder Kassen eine Absage, wonach primär über die Hotline 116 117 oder Gebietsspezialisten wie Gynäkologen koordiniert werden soll. Auch die Steuerung in Teams mit mehreren Ärztinnen und Ärzten, wie vom vdek vorgeschlagen, sei „komplett wirklichkeitsfremd“. „Wir brauchen kein Primärarztsystem nach dem Prinzip Schweizer Käse“, kritisierte sie an die KBV adressiert.
Vielmehr betonte die Verbandsspitze einmal mehr die bereits gemachten Erfahrungen mit der HZV, in die schon heute mehr als zehn Millionen Versicherte eingeschrieben sind. Der Verband spreche bereits mit Facharztverbänden, wie die HZV mit angebundenen Facharztverbänden nach dem Vorbild Baden-Württemberg bundesweit in die Fläche kommen kann, ergänzte Buhlinger-Göpfarth in ihrem Bericht zur Lage. Dadurch könne man auch dem Wunsch nach schnell verfügbaren Facharztterminen nachkommen. Klar sei aber, adressierte sie die Facharztverbände, „niemand rüttelt an unserer HZV. Finger weg vom Paragrafen 73b SGB V!“
„Wir steuern auf eine Versorgungskrise zu“
Dabei mache gerade die demografische Entwicklung das Thema drängend. „Wir steuern auf eine demografisch bedingte Versorgungskrise zu“, warnten die Bundesvorsitzenden in Berlin. Eine aktuelle Befragung im Auftrag des Verbandes zeigt, dass auch die Bevölkerung dies wahrnimmt. „Das System fährt gegen die Wand, wenn sich nichts ändert.“
Einen entsprechenden Leitantrag, um hausärztliche Praxisteams “demografiefest” zu machen, haben die rund 120 Delegierten einstimmig verabschiedet.
Statt auf die überforderte Selbstverwaltung zu setzen, müsse die Politik die HZV zum „Standard der primärärztlichen Versorgung, abseits des schwer beweglichen Kollektivvertrags“ machen und „massiv fördern“. Als ein Beispiel nannte Buhlinger-Göpfarth finanzielle Vorteile für teilnehmende Versicherte. Aber auch Krankenkassen sollten anfangs gezielt gefördert werden, wenn sie ihre Versicherten für die HZV begeisterten.
Laut Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) sind solche finanziellen Anreize denkbar. CDU und SPD tauschten verschiedene Ideen aus, sagte sie am Donnerstagmorgen im „ZDF Morgenmagazin“. Vorstellen könne sie sich eine Art Bonus für Versicherte, die zuerst zur Hausarztpraxis gehen und sich von dort, wenn nötig, gezielt überweisen lassen. Zu fragen sei aber ebenso, ob Versicherte eine Gebühr bezahlen müssten, wenn sie trotzdem direkt zum Gebietsspezialisten gehen.
Gespräche mit Gesundheitsministerin Warken
Auch Buhlinger-Göpfarth und Beier gaben in ihrem Bericht zur Lage einen Einblick in die Gespräche mit Warken. Die schwierige Versorgungslage, die sich schon heute in vielen Regionen zeige, und auch die sich zuspitzende Lage aufgrund des demografischen Wandels, seien der Ministerin bewusst, so Beier. Bei ihrem Treffen hätten sie “Gesprächsbereitschaft” wahrgenommen – die patientengefährdenden Apothekenpläne dann doch nur aus den Medien erfahren zu haben, habe sie getroffen.
Bei der Umsetzung des Primärarztsystems habe Warken Interesse an einer Zusammenarbeit signalisiert. Auch habe sie zugesagt, dass die zwischenzeitlich schon einmal geplante 300-Euro-Bagatellgrenze für Regresse umgesetzt werden soll.
Das Bundesgesundheitsministerium sieht der Verband noch bei einem anderen Vergütungsthema am Zug: Es solle endlich die neue und fertig abgestimmte GOÄ erlassen. Dadurch würde nicht nur die „skandalös niedrig bewertete Zuwendungsmedizin“ endlich besser gestellt, sondern auch das Hantieren im rechtlichen Graubereich mit irgendwelchen Pseudoziffern beendet.
Diskussion: HÄPPI-Konzept für alle da
In der Aussprache zum Bericht zur Lage ist schließlich eine wichtige Klarstellung mit Blick auf HÄPPI, kurz für Hausärztliche Primärversorgung – Patientenversorgung Interprofessionell, gefallen: Das Konzept des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes, um Praxen zukunftsfähig aufzustellen, ist explizit für Praxen jeder Größe gedacht. In der Diskussion hatten einzelne Stimmen Sorge geäußert, dass sich Einzelpraxen durch das Konzept nicht angesprochen oder gar abgehängt fühlen könnten.
Mit einem starken Statement räumte Vorstandsmitglied Dr. Barbara Römer mit dieser Sorge auf: Sie berichtete von der Pilotphase in “ihrem” Landesverband Rheinland-Pfalz, wo vier der sieben Pilotpraxen Einzelpraxen im ländlichen Raum seien. Keine dieser Einzelpraxen sei in dem Transformationsprozess seit 1. Juli ausgestiegen. „HÄPPI ist nicht nur eine Zukunft für Großpraxen“, betonte sie. Gerade für junge Kolleginnen und Kollegen sei es durchaus attraktiv, sich mit HÄPPI auf dem Land niederzulassen.
Buhlinger-Göpfarth und Beier betonten, dass HÄPPI ein wichtiger Schritt sei, die unverzichtbare Teamarbeit in Praxen auszubauen – es sich dabei jedoch explizit um ein Angebot, kein Muss für Praxen handele. Ganz wichtig aber: „Mit HÄPPI sind wir in Vorleistung gegangen, jetzt müssen andere mitziehen, vor allem die Kassen.“