Berlin. Angesichts des immer enger werdenden Zeitfensters für den notwendigen Austausch von Zehntausenden Komponenten zum Betrieb der Telematik-Infrastruktur (TI) übt der Hausärztinnen- und Hausärzteverband scharfe Kritik an der TI-Betreibergesellschaft Gematik. „Als erstes müsste die Gematik endlich einmal transparent kommunizieren und Verantwortung für den Prozess übernehmen“, ist aus Sicht des Verbandes mit Blick auf den stockenden Umstellungsprozess nötig.
Stattdessen hangele sich die Gematik „seit Monaten von Floskel zu Floskel“ und schiebe die Verantwortung den Praxen zu, kritisiert Co-Bundesvorsitzende Prof. Nicola Buhlinger-Göpfarth.
Zum Hintergrund: Zum Jahresende laufen für eine Reihe von TI-Komponenten die Sicherheitszertifikate aus. Der Grund dafür ist, dass die Kryptografie der TI von RSA (Rivest-Shamir-Adleman) laut Vorgaben der Bundesnetzagentur und des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) auf die sicherere ECC (Elliptic Curve Cryptography) umgestellt wird. Betroffen sind unter anderem Heilberufsausweise, SMC-B-Karten und Konnektoren.
Zeit wird knapp – mit drastischen Folgen
Dass die Zeit für den Austausch aller Komponenten knapp wird, darin sind sich mittlerweile alle Beobachter einig. Geht man davon aus, dass in der Weihnachtswoche keine Techniker mehr zur Verfügung stehen, bleiben noch genau neun Wochen. Von den rund 30.000 im Frühjahr bezifferten Konnektoren seien noch immer rund 13.000 auszutauschen, zudem Zehntausende weitere Bausteine sowie Software-Updates. „In Anbetracht der schieren Menge, der schlechten Kommunikation seitens der Gematik und der sehr weit fortgeschrittenen Zeit, erscheint es zunehmend fraglich, ob das noch gelingen kann“, so Co-Bundesvorsitzende Buhlinger-Göpfarth.
Die Gematik schätzt den Zeitplan als sportlich, aber durchaus machbar ein – verweist aber deutlich auf die Industrie. “Die vollständige Umstellung aller TI-Komponenten auf ECC bis zum 31.12.2025 ist grundsätzlich möglich, sofern neue Karten und Konnektoren rechtzeitig verfügbar sind”, teilt sie auf Anfrage der Redaktion von Hausärztliche Praxis am 16.10. mit. “Sollte absehbar sein, dass Anbieter die Umstellung nicht fristgerecht realisieren können, prüft die Gematik alle möglichen Maßnahmen”, heißt es bei der Nachfrage nach einem Notfallplan. “Leistungserbringende sollten sich in jedem Fall schnellstmöglich an ihre Anbieter wenden und die Hinweise ihrer IT-Dienstleister sehr ernst nehmen.”
Denn die Folgen wären dramatisch: Wird nicht rechtzeitig auf den neuen Algorithmus ECC256 umgestellt, droht Praxen laut Gematik, von der TI abgeschnitten zu werden. „Die Folge wäre, dass unzählige Praxen ab dem 1. Januar bis auf Weiteres vom Netz gehen müssen, denn sie könnten weder ein eRezept ausstellen noch die Versichertenkarte einlesen oder eine eAU ausstellen“, bringt es Buhlinger-Göpfarth auf den Punkt. Die Folge: „Patientinnen und Patienten würden vor verschlossenen Türen stehen.“
Haftungsansprüche gegen Anbieter geltend machen?
Einschränkend teilt die Gematik mit Blick auf den sportlichen Zeitplan mit: “Damit die vollständige Umstellung bis zum Jahresende gelingen kann, müssen verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein, z. B. ein angemessenes, hohes Niveau bei der Produktion neuer Karten.” Aktuell arbeite “die überwiegende Mehrheit der Beteiligten” mit Hochdruck daran.
Wichtig in der Praxis: Insbesondere neue eHBA sollten laut Gematik spätestens am 1. Dezember zur Verfügung stehen, um die Umstellung und einen reibungslosen Betrieb sicherzustellen.
Die Aussagen dürften als Seitenhieb gegen die jüngsten Lieferschwierigkeiten von Medisign zu verstehen sein. So rät die Gematik auf ihrer Webseite aktuell auch dazu, dass “Betroffene die vertraglichen und zivilrechtlichen Handlungsoptionen (u. a. Haftungsansprüche gegen den Anbieter) und ggf. den Wechsel zu einem alternativen Anbieter prüfen” sollten, wenn Hersteller nicht liefern könnten.
Medisign hatte jüngst einen Produktionsverzug von rund vier Wochen eingeräumt, der Medienberichten zufolge jedoch durch eine neue, leistungsstärkere Produktionsstraße ausgeglichen werden sollte. Die Gematik machte an das Versprechen ein Fragezeichen und prüft eigenen Angaben zufolge “gegenwärtig etwaige Maßnahmen gegenüber dem Anbieter und befindet sich hierzu in einem verwaltungsrechtlichen Anhörungsverfahren mit medisign GmbH” (Stand 9.10.).
Dabei sind die Lieferschwierigkeiten von Medisign nur ein – vergleichsweise geringer – Baustein des großflächigen Komponententauschs, wie auch der große Marktüberblick von Hausärztliche Praxis zeigt. Neben Medisign sind mit D-Trust / Bundesdruckerei, T-Systems und SHC jeweils drei weitere Anbieter für SMC-B und eHBA am Markt; allen Kunden sollten bereits im Spätsommer über möglicherweise notwendige Wechsel informiert werden sollen.
Zudem handele es sich bei dem Rat, zivilrechtliche Schritte gegen einzelne Hersteller zu prüfen, um eine “Nebelkerze”, kritisiert Buhlinger-Göpfarth. “De facto hilft das einer Praxis, die unverschuldet nicht arbeiten kann, auch nicht weiter.”
HÄV und KBV hatten schon im Mai an die Gematik geschrieben
Dass es sich bei dem flächendeckenden Austausch um eine Mammutaufgabe handeln würde, zeichnete sich bereits früh im Jahr ab. Umso dringender hatte der Hausärztinnen- und Hausärzteverband (HÄV) ein koordiniertes Migrationskonzept durch die Gematik angemahnt.
Ebenso wie die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hatte er sich bereits im Mai an die Gematik gewandt, Bedenken hinsichtlich der knappen Frist bis Ende 2025 deutlich geäußert und sie aufgefordert, ein realistisches, abgestimmtes und für alle Beteiligten umsetzbares Migrationskonzept vorzulegen.
“Die Gematik muss jetzt sehr zeitnah einen Notfallplan vorlegen und diesen dann auch öffentlich kommunizieren”, mahnt Co-Bundesvorsitzende Buhlinger-Göpfarth nun einmal mehr. “Welche Zertifikate können unter welchen Umständen verlängert werden? Wie können die veralteten Konnektoren sehr kurzfristig ausgetauscht werden? Welche Techniker können die Praxen im Zweifel kurzfristig unterstützen? Diese Fragen muss die Gematik nun schleunigst transparent beantworten.”