Berlin. Die Leistungen der allgemeinen hausärztlichen Versorgung inklusive Hausbesuchen (EBM-Kapitel 3 und 1.4) werden künftig ohne Budgetdeckel vergütet. Das hat der Deutsche Bundestag in der Nacht zum Freitag (31. Januar) beschlossen. Mit den Stimmen von SPD, Grünen und FDP wurde kurz nach Mitternacht eine geänderte Fassung des Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes (GSVG) verabschiedet. Die Abgeordneten der Linken stimmten dagegen, Union und AfD enthielten sich ihrer Stimmen.
In dem Maßnahmenpaket zur Stärkung der hausärztlichen Versorgung sind enthalten:
- eine (Halb-)Jahrespauschale zur Versorgung sogenannter Mono-Chroniker, also jenen geschätzt 1,5 Millionen Menschen mit genau einer chronischen Erkrankung und nur einer benötigten Medikation, bei denen kein intensiver Betreuungsbedarf besteht,
- eine Vorhaltepauschale zur Förderung von Praxen, die klassische hausärztliche Versorgung gewährleisten, sowie
- die Entbudgetierung, für die der Hausärztinnen- und Hausärzteverband zuvor über Jahre gekämpft hatte.
Noch am Tag vor der Abstimmung im Bundestag hatte der Gesundheitsausschuss über eine veränderte Fassung abgestimmt. So etwa die verlängerte Frist zur Verordnung sonstiger Produkte zur Wundbehandlung auf Kassenkosten.
Erster Baustein zur Zukunftssicherung
Mit der Verabschiedung des Gesetzes wurde ein “erster Baustein für eine zukunftsfeste hausärztliche Versorgung gelegt”, lobten die Bundesvorsitzenden des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes, Prof. Nicola Buhlinger-Göpfarth und Dr. Markus Beier. “Das ist ein wichtiges Signal für die Hausarztpraxen und vielerorts buchstäblich die Rettung in letzter Sekunde!”
Auf diesem müsse nun aufgebaut werden: “Die Verantwortlichen sind dringend dazu aufgerufen, gemeinsam anzupacken und die Maßnahmen im Sinne der hausärztlichen Versorgung umzusetzen. Wir warnen die Krankenkassen davor, sich in diesem Prozess querzustellen, nachdem der hausärztliche Bereich jahrelang schwer vernachlässigt wurde.”
Auch der scheidende Gesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach (SPD) nannte das GVSG als letztes Gesundheits-Gesetz dieser Legislaturperiode „ein gutes und wichtiges Gesetz”. „Die Hausarztpraxen sind derzeit häufig überfüllt mit Patienten, die dort eigentlich gar nicht sitzen müssten“, nur weil es das Honorarsystem nötig mache, führte er im Bundestag aus. „Das ist ein unwürdiger Zustand, den wir seit Jahren tolerieren.“
Auch Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) lobte das Ende der Budgets. “Die Budgetierung ist eines der leistungsfeindlichsten Instrumente, das unser Gesundheitssystem je erlebt hat.”
Für Hausarztpraxen stellen sich mit dem Beschluss der Entbudgetierung nun einige Fragen:
1. „Entbudgetierung“ – was bedeutet das in der Praxis?
Vereinfacht gesagt gibt es bislang Honorar-Obergrenzen, also einen bestimmten Betrag, den die Krankenkassen für die ambulante Versorgung ihrer Versicherten je Quartal zur Verfügung stellen. War dieses Budget aufgebraucht, wurden weitere Behandlungen oft nicht mehr vollständig von den Krankenkassen erstattet – auch wenn die Patientinnen und Patienten in den Hausarztpraxen natürlich versorgt wurden.
Künftig werden die Krankenkassen verpflichtet, alle Leistungen der allgemeinen hausärztlichen Versorgung einschließlich Hausbesuchen – konkret EBM-Kapitel 3 und 1.4 – entsprechend der Bewertung im EBM vollständig zu den jeweils regionalen Preisen zu vergüten. Diese beiden EBM-Kapitel machen über 90 Prozent aller hausärztlichen Leistungen aus.
2. Was passiert mit den anderen hausärztlichen Leistungen?
Tatsächlich sind sonstige hausärztliche Leistungen – zum Beispiel Psychosomatik, Sonografie, Schmerztherapie oder auch telefonische Beratungen – nicht in der Entbudgetierung enthalten, obwohl der Hausärztinnen- und Hausärzteverband hierfür wiederholt eingetreten war.
Eine Befürchtung in der Debatte war, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) diese sonstigen Leistungen künftig quotieren, um daraus teilweise die Entbudgetierung zu finanzieren. Das kann zwar nicht ausgeschlossen werden, ist aber völlig offen. In jedem Fall fallen die Effekte der Entbudgetierung deutlich stärker ins Gewicht als eine solche mögliche Abstaffelung der sonstigen Leistungen, die naturgemäß nur einen vergleichsweise kleinen Teil des Spektrums einer Praxis ausmacht.
Blick in die Praxis: Denkbar ist beispielsweise, dass eine Praxis in einer Region, in der die Auszahlungsquote bislang bei 75 Prozent gelegen hat, auch psychosomatische sowie schmerztherapeutische Leistungen abrechnet (zusammen 6 Prozent der gesamt abgerechneten Leistungen). In der Summe bedeutet die Entbudgetierung ein bedeutendes Plus für die Praxis: Die Auszahlungsquote des überwiegenden Teils ihrer Leistungen (94 Prozent) steigt von 75 auf 100 Prozent.
3. Um wie viel Geld geht es bei der Entbudgetierung?
Aktuelle Berechnungen gehen davon aus, dass durch die Regelung zusätzlich zwischen 300 und 500 Millionen Euro pro Jahr in die hausärztliche Versorgung fließen. Wichtig: Gerüchte, wonach kein frisches Geld für die Finanzierung der Entbudgetierung zur Verfügung steht, sind falsch.
Auch droht entgegen zahlreichen Behauptungen keine Umverteilung zwischen haus- und fachärztlichem Bereich. Die Trennungsbeschlüsse gelten fort und bleiben unangetastet. Für die Entbudgetierung müssen die Kassen zusätzliches Geld zur Verfügung stellen, im Gegensatz zu den vorgesehenen EBM-Pauschalen, die im GVSG als kostenneutral vorgesehen sind.
4. Welche Rolle spielt der Standort meiner Praxis?
Von der Entbudgetierung werden nicht nur Ballungszentren profitieren, sondern auch Flächenländer wie Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt. Eine der am stärksten betroffenen Regionen war zuletzt Hamburg: Hier hat die Auszahlungsquote bei nur 68 Prozent gelegen.
Doch auch in Regionen, die nicht mittelbar betroffen sind, wirkt die Gesetzesänderung positiv. Zum einen garantiert sie eine 100-prozentige Auszahlungsquote auch für die Zukunft, zum anderen sendet sie ein klares Signal an junge Ärztinnen und Ärzte, dass die hausärztliche Versorgung von der Politik unterstützt wird. Und: Mehrere KV-Regionen haben sich zuletzt bereits an der Grenze bewegt und wären vielleicht in absehbarer Zeit budgetiert worden.
5. Kann meiner Praxis durch die Änderung Geld verloren gehen?
Diese Sorge könnte Hausärztinnen und Hausärzte in Regionen umtreiben, in denen heute mehr Morbiditätsbedingte Gesamtvergütung (MGV) von den Kassen an die KVen gezahlt als hausärztlicher Leistungsbedarf abgerechnet wird. Ihnen geht durch die Entbudgetierung kein Geld verloren. Denn die Regelung der sogenannten MGV+, für die der Hausärztinnen- und Hausärzteverband eingetreten ist, stellt sicher, dass die zusätzlichen Mittel in diesen Regionen weiter ausgeschüttet werden können.
6. Wird auch die 03230 EBM künftig voll ausgezahlt?
Nein, denn die Begrenzung der 03230 EBM („problemorientiertes ärztliches Gespräch“) ergibt sich aus den Regelungen innerhalb des EBM, nicht aus der bis dato vorhandenen Budgetierung. Sie kann auch weiterhin nur maximal bei der Hälfte der behandelten Personen abgerechnet werden. Dieses Problem kann nur die Selbstverwaltung lösen, nicht der Gesetzgeber.
7. Wann kommt die Entbudgetierung in der Praxis an?
Das GVSG dürfte nach der Bundestagswahl am 23. Februar in den Bundesrat gehen. Je nachdem, wann das GVSG verkündet wird, wird die Entbudgetierung dann entweder noch im vierten Quartal 2025 oder im ersten Quartal 2026 für Praxen wirksam. Aktuell wird damit gerechnet, dass das GVSG im April in Kraft treten wird. In diesem Fall würde die Entbudgetierung Anfang 2026 starten.
Der Hausärztinnen- und Hausärzteverband hat eine zeitnahe Umsetzung als „dringend geboten“ angemahnt. Laut Bundesvorsitzendem Dr. Markus Beier wird es darum gehen, „dass die Selbstverwaltung ihren Job macht und dafür sorgt, dass die beschlossenen Maßnahmen schnell und unbürokratisch in den Praxen ankommen“.