© Petra Hummel Petra Hummel, Fachärztin für Allgemeinmedizin in Bad Homburg und Sprecherin der AG Digitales im Hessischen HÄV
“Schnell und einfach mit uns zur barrierefreien Praxiswebseite!” Mit diesen oder ähnlichen Slogans werben Webseitengestalter aktuell in Briefen, E-Mails und Werbeflyern, weiß Petra Hummel.
Auch die Hausärztin aus dem hessischen Bad Homburg hat entsprechende E-Mails erhalten: Mal hätten diese mit besseren Google-Bewertungen geworben, mal mit bis zu 100.000 Euro Strafe gedroht – immer unter Verweis auf das Ende Juni in Kraft getretene Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG).
“Wie vor einigen Jahren bei Inkrafttreten der EU-Datenschutzgrundverordnung werden aktuell viele Ängste geschürt”, beobachtet Hummel. “Liest man sich aber genau ein, so stellt man schnell fest, dass viele Ängste unnötig sind.”
Um Kolleginnen und Kollegen diese Zeit für das genaue Einlesen zu sparen, hat sich Hummel gemeinsam mit ihrem Kollegen Torsten Feichtinger für den Hausärztinnen- und Hausärzteverband Hessen mit dem Thema auseinandergesetzt. Als Sprecher der AG Digitales in Hessen haben sie aus einem Wust an kursierenden Informationen neutrale Fakten herausgefiltert.
Fallbeispiele – Welche Praxis ist betroffen?
Fallbeispiel 1: Praxis A betreibt eine reine “Präsentationswebseite”: Es sind ausschließlich Informationen zu Leistungen, Öffnungszeiten sowie eine Vorstellung des Teams vorhanden, ohne jegliche interaktive Elemente. Das Team besteht aus fünf MFA, IGeL werden kaum abgerechnet. Keine BFSG-Pflicht!
Fallbeispiel 2: Praxis B hat sieben MFA. Der Jahresumsatz liegt bei rund 2,5 Millionen Euro, auf der Webseite werden Online-Terminbuchungen über einen externen Dienstleister und ein eigenes Patientenportal angeboten. BFSG-Pflicht, Übergangsfrist bis 30.6.2030!
Fallbeispiel 3: Ein neues MVZ plant den Einstieg in die Versorgung zum vierten Quartal 2025. An zwei Standorten sind 18 MFA sowie angestellte Ärztinnen und Ärzte im Einsatz, auf der umfangreichen, interaktiven Webseite werden auch verschiedene Wellness-Produkte im Shop angeboten. Sofortige BFSG-Pflicht!
“Man ist bei der Recherche aber immer wieder schnell bei Anwaltskanzleien und kommerziellen Anbietern gelandet”, berichtet sie. Doch deren Schreiben, die aktuell viele Praxen erreichen, seien “teilweise verbunden mit der Androhung von Strafen und teuren Umsetzungsangeboten.”
Die Hausärztinnen- und Hausärzteverbände (HÄV) in Hessen und Westfalen-Lippe haben Anfang Juli daher ihre Mitglieder über solche Schreiben informiert.
Link-Tipps
Umfangreiches FAQ zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz der Bundesfachstelle Barrierefreiheit: www.hausarzt.link/Ur4DM
Hilfreiche Beispiele für die Gestaltung barrierefreier Webseiten bei der Aktion Mensch: www.hausarzt.link/GXrqQ
Beispiele und Best Practices, inklusive digitaler Tools zum Testen der Webseite (beispielsweise “Kontrast-Checker”): www.hausarzt.link/W5YMb
Was bedeutet digitale Barrierefreiheit?
Zum Hintergrund: Das BFSG ist zum 28. Juni in Kraft getreten. Ziel ist es, Barrieren für Menschen mit Behinderungen, aber beispielsweise auch altersbedingten Einschränkungen abzubauen und ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und digitalen Leben zu ermöglichen. Auf Webseiten kann dies beispielsweise geschehen, indem
Untertitel für Videos angezeigt werden,
Bilder mit Alternativtexten und Webseiten mit klarer Struktur versehen werden, damit Sehgeschädigte sie von Screenreadern vorlesen lassen können;
eine Webseite für Menschen mit motorischen Einschränkungen auch ohne Maus bedienbar ist,
Texte und grafische Elemente ausreichend kontrastreich gestaltet sind und
Inhalte leicht verständlich dargestellt werden.
Das BFSG setzt eine EU-Richtlinie von 2019 um und richtet sich insbesondere an Unternehmen, die bestimmte Produkte und Dienstleistungen anbieten. So sollen beispielsweise auch ältere Menschen, die nicht mehr gut sehen oder kognitiv eingeschränkt sind, diese Angebote trotzdem nutzen können. Verstöße werden mit bis zu 100.000 Euro Strafe oder Abmahnungen geahndet.
Wichtig für Praxen: In der Regel fallen Webseiten von Praxen, auf denen lediglich Infos wie die Sprechstundenzeiten bereitgestellt werden und keine Interaktion möglich ist, nicht unter die BFSG-Pflicht. Das Gesetz kann aber auch Praxen betreffen!
In welchen Fällen sind auch Praxen betroffen?
Eine BFSG-Pflicht besteht beispielsweise, wenn eine Praxis
kostenpflichtige Gesundheitsleistungen wie Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) mit Online-Bezahlfunktion verkauft,
Telemedizin kommerziellanbietet,
ein eigenes Patientenportal mit Selfservice-Funktionalitäten (ähnlich wie beim Online-Banking) betreibt,
Webseiten mit Kontaktformularen, Patienten-Apps oder Online-Shops für Gesundheitsprodukte bereitstellt.
Wichtig für Praxen: “Reine Videosprechstunden sind hiervon ausgenommen”, erklärt Hummel nach ihren Recherchen. Externe Online-Terminbuchungsplattformen hingegen könnten eine Art Grauzone sein. “Hier sollten sich die Kolleginnen und Kollegen bei den Anbietern rechtssicher bestätigen lassen, dass deren Plattform dem BFSG entspricht, da diese unter das BFSG fallen”, rät Hummel.
Kleinstunternehmen mit unter zehn Mitarbeitenden (Vollzeitäquivalente; Auszubildende und Mitarbeiterinnen in Mutterschutz oder Elternzeit zählen nicht dazu) und weniger als zwei Millionen Euro Umsatz sind von der BFSG-Pflicht regelhaft ausgenommen.
Eine Praxis, die lediglich eine Informationswebseite bietet und unter diesen Grenzen liegt, muss damit nicht tätig werden. Sobald aber eins der beiden Kriterien nicht mehr erfüllt ist, gilt die Praxis nicht mehr als Kleinstunternehmen!
Anstoß, die eigene Webseite zu überarbeiten
“Oft wird somit ein Handlungsbedarf suggeriert, der in den meisten Fällen gar nicht besteht”, beobachtet Hummel. Ihr Rat an Kolleginnen und Kollegen: “Lassen Sie sich nicht unter Druck setzen!” Auch, weil für bestehende Webseiten eine Übergangsfrist gilt: Sie haben bis zum 28. Juni 2030 Zeit für die vollständige Umsetzung. Webseiten, die neu online gehen, müssen hingegen sofort barrierefrei gestaltet werden.
Auch wenn das BFSG keine konkrete Verpflichtung für die eigene Praxis mit sich bringt, kann es Anlass sein zu überprüfen, “wo eine Webseite besser und barrierefreier gestaltet werden kann”, betont Hummel. So könne das BFSG Anlass sein, “die Praxiswebseite mal wieder auf Aktualität zu überprüfen und Anpassungen vorzunehmen, Kontraste zu vertiefen, Fremdwörter und Fachbegriffe zu erklären oder Abkürzungen auszuschreiben und die einfache Bedienbarkeit von Kontaktformularen, Rezeptbestellung oder Ähnlichem mit Maus oder Tastatur zu reflektieren”, raten Hummel und ihr Kollege Feichtinger im Newsletter des Landesverbandes. Hummel selbst lässt etwa einen neuen Button auf der Webseite installieren, um den Kontrast zu erhöhen.
Wichtig für Praxen: “Eile ist in den meisten Fällen nicht geboten”, beruhigt Hummel. Sie rät Praxen, die vom BFSG betroffen sind oder Fragen hierzu haben, sich an ihren Webseitenbetreiber oder IT-Dienstleister zu wenden. Auch eine juristische Beratung sei bei individuellen Fragen empfehlenswert, die Kosten dürften jedoch ähnlich hoch liegen wie die Überarbeitung selbst, so Hummel.
Um Gedanken zur Webseitengestaltung zu sammeln, könne es auch hilfreich sein, das Praxisteam einzubeziehen, sagt Hummel. Die Webseite werde in ihrem Fall zwar extern betreut. Nichtsdestotrotz könne ein gemeinsames Brainstorming helfen, die Nutzerfreundlichkeit zu erhöhen.
Tipp: “Viele Barrierefreiheits-Maßnahmen entsprechen auch den Anforderungen der Suchmaschinenoptimierung”, erinnert der Landesverband Westfalen-Lippe. Die Umsetzung der BFSG-Vorgaben könne sich daher positiv auf das Google-Ranking auswirken und die Praxis online besser auffindbar machen – ganz ohne Druck und teure Werbeaktionen.