Hamburg/Berlin. Erstmals seit vielen Jahren sind in Deutschland wieder Polio-Wildviren vom Typ 1 nachgewiesen worden. Der Erreger, der zu Poliomyelitis führen kann, sei in einer Hamburger Abwasserprobe entdeckt worden, teilte die Gesundheitsbehörde der Hansestadt mit. Auch das Robert Koch-Institut berichtet (Epid Bull 48/25). Das Risiko für die Bevölkerung werde aufgrund der hohen Impfquoten und des isolierten Nachweises im Abwasser aber als sehr gering eingeschätzt.
Polio-Wildviren kommen laut der Gesundheitsbehörde weltweit eigentlich nur noch in Afghanistan und Pakistan vor. Die letzte nachweislich in Deutschland durch Polio-Wildviren erfolgte Poliomyelitis-Erkrankung sei 1990 erfasst worden. “Die letzten beiden importierten klinischen Fälle wurden 1992 registriert”, heißt es in der Mitteilung.
Genauer örtliche Bestimmung nicht möglich
Abwasserproben aus deutschen Großstädten würden fortlaufend durch das Robert Koch-Institut (RKI) und das Umweltbundesamt auf Polio-Viren untersucht. Die Probe mit dem positiven Befund stammt den Angaben zufolge von Anfang Oktober. “Da es sich um eine Abwassersammelprobe aus Hamburg und teilweise angrenzenden Bundesländern handelt, ist eine genaue örtliche Bestimmung, wo das Virus durch menschliche Ausscheidung in das Abwasser gelangte, nicht möglich.” Auch lasse sich nicht sagen, ob eine oder mehrere Personen mit dem Virus infiziert sind.
Bereits seit Ende vergangenen Jahres seien in Abwasserproben aus mehreren Orten in Deutschland Impfstoff-abgeleitete Polio-Viren des Typs 2 nachgewiesen worden (Hausärztliche Praxis berichtete).
Eine Verbindung mit dem jetzt in Hamburg nachgewiesenen Wildtyp bestehe nicht, da es sich um unterschiedliche Typen von Polio-Viren handele. Grundsätzlich könnten aber beide Polio-Viren-Typen bei Menschen, die nicht oder nicht ausreichend geimpft sind, Kinderlähmung verursachen, so die Behörde.
In Deutschland und auch in Hamburg sei aufgrund der hohen Impfquoten aber von einer Herdenimmunität innerhalb der Bevölkerung auszugehen.
Empfehlungen für medizinisches Fachpersonal
Für das RKI ist der Nachweis von Polio-Wildviren im Abwasser “ein ungewöhnliches, aber grundsätzlich nicht unerwartetes Ereignis”. Die Empfehlungen für medizinisches Personal, die vom RKI in den vergangenen Monaten mehrfach im Rahmen der Nachweise von Impfstoff-abgeleiteten Polio-Viren vom Typ 2 publiziert wurden, gelten auch für den aktuellen Nachweis, betont die Behörde:
- Impflücken schließen!
- Notwendiger Impfschutz auf Reisen: Vor einem Aufenthalt in Afghanistan oder Pakistan empfiehlt die STIKO eine Polio-Auffrischimpfung, wenn die letzte Impfstoffdosis vor mehr als zehn Jahren verabreicht worden ist.
- An Poliomyelitis denken!
- Nationale Enterovirus-Surveillance nutzen: Um Personen, die Polioviren ausscheiden oder an Poliomyelitis erkrankt sind, frühzeitig zu erkennen, sollten Ärztinnen und Ärzte sowie medizinische Labore eine unentgeltliche Enterovirus-Diagnostik aus Stuhl- oder Liquorproben nutzen. Dies werde allen pädiatrischen und neurologischen Kliniken zur differentialdiagnostischen Abklärung von viralen Meningitiden bzw. Enzephalitiden sowie akuten schlaffen Paresen angeboten.
- Verdachtsfälle und Virusnachweise melden und
- Nationalen Polio-Leitfaden für den Öffentlichen Gesundheitsdienst bei Bedarf anwenden.
IPV-Impfstoff schützt vor klinischer Erkrankung
„Der in Deutschland eingesetzte inaktivierte Poliovirusimpfstoff (IPV) verhindert eine Infektion durch Polioviren nicht, sondern schützt vor der klinischen Erkrankung“, erklärt Dr. Carolina Klett-Tammen vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig gegenüber dem “Science Media Center”.
Die Eliminierung der Poliomyelitis in Europa basiere auf einer Kombination aus sehr hohen Impfraten, umfassender Surveillance, fehlender endemischer Zirkulation und strikter Kontrolle importierter Erreger. Werde das Virus jedoch erneut eingeschleppt, könne es auch in vollständig IPV-geimpften Populationen zirkulieren, ohne sofort Erkrankungen zu verursachen.
Das RKI erklärt: “Eine vollständige Poliomyelitis-Impfung mit dem in Deutschland eingesetzten Totimpfstoff schützt zuverlässig vor der Erkrankung, jedoch nur eingeschränkt vor einer Ansteckung und Weitergabe der Erreger. Infizierte Menschen können potenziell andere Menschen anstecken. Die Ansteckung erfolgt hauptsächlich über direkten Kontakt und kontaminierte Oberflächen, insbesondere über Stuhl bei schlechten hygienischen Bedingungen. Zu Beginn der Infektion ist eine Ansteckung auch über Tröpfchen möglich, z.B. durch Husten oder Niesen.”
red/dpa
