Der Fall
Ein 23-jähriger Patient (1,83 m, 65 kg) stellte sich bei seiner Hausärztin vor, weil er sich zunehmend erschöpft fühlte und Konzentrationsschwierigkeiten beklagte. Er arbeitete als Trainer in einem Fitnessstudio. Schon immer war er sehr sportlich und hatte eine gut ausgeprägte Muskulatur. Seine Laborwerte waren unauffällig.
Um den Grund für seine Erschöpfung herauszufinden, fragte ihn seine Ärztin, ob er regelmäßig und ausreichend isst. Da er nur zögerlich antwortete, folgten weitere Fragen zu Essverhalten und Körperbild. Dabei stellte sich heraus, dass er vor etwa zwei Jahren begann, sich zunehmend mit seinem Körper auseinanderzusetzen, insbesondere mit dem Gedanken, “noch definierter” und “absolut fettfrei” zu sein.
Seine Nahrungsaufnahme war schon immer selektiv, wurde jedoch mit der Zeit zunehmend eingeschränkt. Seine Ernährung beschränkte er fast ausschließlich auf proteinreiche Lebensmittel, dagegen mied er Fett und Kohlenhydrate weitgehend. Seine tägliche Kalorienaufnahme hatte er drastisch reduziert, trainierte aber weiterhin intensiv. Innerhalb von 12 Monaten hatte er etwa 15 kg verloren, wodurch nicht nur das Körperfett, sondern auch die Muskelmasse deutlich abgenommen hatte.
Der Psychotherapeut, den er auf Empfehlung seiner Hausärztin aufsuchte, stellte eine Anorexia nervosa fest. Die Behandlung bestand aus Ernährungsaufbau und Verhaltenstherapie. Eine besondere Herausforderung war, dass er seine Muskulatur wieder aufbauen wollte, gleichzeitig aber extreme Angst vor jeglicher Gewichtszunahme hatte.
“Es gibt eine sehr große Anzahl von Jungen und Männern, bei denen wir übersehen, dass sie dysfunktionale Verhaltensweisen in Bezug auf Essen haben, weil wir nicht danach fragen”, erklärte Univ.-Prof. Dr. med. Georgios Paslakis, Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Ruhr-Universität Bochum.
Gerade bei männlichen Patienten werden Essstörungen wie Anorexia nervosa, Bulimia nervosa oder eine Binge-Eating-Störung oft zu spät oder gar nicht erkannt, so dass von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist. Selbst wenn Männer Untergewicht haben, wird oft im Vergleich zu Frauen eher an eine körperliche Erkrankung gedacht, aber nicht an ein gestörtes Essverhalten.
Männer verschweigen ihr Essverhalten
Schwierig ist die Diagnose schon allein deswegen, weil viele Männer nicht von sich aus berichten, dass sie eine Essstörung haben. “Bei ihnen muss man das aktiv ansprechen”, rät Paslakis.
Männer mit gestörtem Essverhalten schildern in der Sprechstunde häufig andere Symptome. Das können beispielsweise gastrointestinale Beschwerden, Müdigkeit, Erschöpfung, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Schwindel und andere körperliche Symptome sein.
An das Vorliegen von essgestörtem Verhalten sollte man denken, wenn Jungen und Männer sehr strikte Diäten verfolgen, viel Protein, wenig Kohlenhydrate und kaum Fett zu sich nehmen und sehr viel Sport machen.
Zudem gibt es sehr schädliche Trends wie der Gebrauch von leistungssteigernden Substanzen (z.B. Steroide), die eine ganze Reihe von Folgeschäden mit sich bringen können.
An das mögliche Vorliegen einer Essstörung ist auch zu denken, wenn Männer mit depressiven Symptomen, geringem Selbstwertgefühl oder Suizidgedanken in die Praxis kommen. Häufig sind die Betroffenen unzufrieden mit dem eigenen Körper.
Laborwerte wenig aussagekräftig
Rein äußerlich sieht man Männern eine Essstörung oft nicht an. Parameter wie Körpergewicht und Body-Mass-Index (BMI) sind in vielen Fällen wenig hilfreich, weil Menschen eine Essstörung und dennoch einen normalen BMI haben können.
Hinzu kommt, dass die Muskulatur bei vielen betroffenen Männern gut ausgeprägt ist und eine Magersucht verdeckt. “Wenn die Menschen nicht sichtbar untergewichtig oder deutlich mehrgewichtig sind, kommen Ärztinnen und Ärzte weniger oft auf die Idee, dass auch eine Essstörung vorliegen könnte”, berichtete Paslakis.
Das ist vor allem auch dann der Fall, wenn die Männer sportlich aktiv sind. Doch gerade Männer mit einer Essstörung trainieren häufig sehr exzessiv. Viele folgen strikt ihrem Trainingsplan, koste es was es wolle. Manche vernachlässigen auch ihre beruflichen Verpflichtungen und sozialen Kontakte deswegen. Zusätzlich können Verletzungen durch Überlastung auftreten.
“Daher sollte man kritisch hinterfragen, warum jemand so viel Sport macht”, empfahl Paslakis. Die Laborwerte liefern in vielen Fällen ebenfalls keinerlei Hinweise auf eine Essstörung, denn die Symptomatik muss stark ausgeprägt sein, bis Veränderungen an den Laborwerten erkennbar werden.
Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn Menschen sich häufig übergeben oder Medikamente wie Diuretika und Laxanzien zu sich nehmen, um Gewicht zu verlieren, dann können die Blutsalze entgleisen. Defekte im Zahnschmelz und geschwollene Ohrspeicheldrüsen können Hinweise auf regelmäßiges Erbrechen sein.
Das Gespräch suchen
Wer einem auffälligen Essverhalten auf die Spur kommen will, muss mit den Männern ins Gespräch kommen, idealerweise mit viel Empathie und Sensibilität.
“Es ist wichtig, dass auch Hausärztinnen und Hausärzte sich angewöhnen, nach dem Essverhalten zu fragen”, so Paslakis. Hilfreich kann es sein, nach den aktuellen Lebensumständen zu fragen und dabei die Ernährung mit einzubeziehen (siehe Tab. 1 unten).
An Spezialisten überweisen
Bei entsprechendem Verdacht sollten Hausärztinnen und Hausärzte offen mit den Patienten kommunizieren. Das weitere Vorgehen hängt davon ab, wie stark ausgeprägt die Symptomatik ist und welche Vorstellungen der Betroffene hat.
Ggf. kann die Behandlung durch eine Psychotherapeutin oder einen Psychotherapeuten sinnvoll sein. Entsprechende Beratungsstellen können ebenfalls weiterhelfen. Bei kritischem körperlichem Status oder Suizidalität kann eine Notfallversorgung bzw. die Einweisung in eine Klinik erforderlich sein.
Quellen:
- Gespräch mit Univ.-Prof. Dr. med. Georgios Paslakis, Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Ruhr-Uni-versität Bochum
- Landesfachstelle Essstörungen NRW, Themenheft “Essstörungen bei Jungen und Männern”, 2019
- S3-Leitlinie Diagnostik und Behandlung der Essstörungen (www.hausarzt.link/tWHhu)
