Pessimistisch betrachtet, berge die Anonymität des Internets die Gefahr unkontrollierbarer idealisierender Illusionen. Das Netz ermögliche die Freiheit der unwahren Selbstdarstellung und die Annahme virtueller Identitäten. Optimistisch gesehen, biete es die Möglichkeit, den virtuellen Raum als Experimentierfeld für die Identitätsentwicklung zu nutzen, beleuchtete Roesler die Licht- und Schattenseiten des Internets. Durch das Internet kommt es zur Verschiebung von Grenzen, was die therapeutische Beziehung verändere. Durch e-mails ist der Therapeut z.B. jederzeit erreichbar, was Roesler als tendenziell problematisch bezeichnete: „Wo bleibt die Fähigkeit zu warten, wenn der Klient bei jeder Regung dem Therapeuten eine mail schreiben kann?“ Hinzu komme die Kanalreduktion, das Fehlen non- und paraverbaler Informationskanäle.
Die Kommunikation werde emotional ärmer und die affektive Feinabstimmung zwischen Therapeut und Patient erschwert. Missverständnisse können nur bedingt repariert werden. Damit werde die therapeutische Interaktion und Beziehung unsicherer. „Doch wir wollen gerade nicht, dass die Therapie unsicherer wird,“ so der Referent. Auch die IAAP (International Association for Analytical Psychology) kam zu dem Schluss, dass es bei Teletherapie häufiger zu Beziehungsirritationen käme, die dann bei einem „face-to-face“-Kontakt repariert werden müssten.
Persönliche Interaktion ist unverzichtbar
Andererseits ermögliche das Internet die Unabhängigkeit von Zeit und Raum und senke die Schwelle für die Inanspruchnahme von Psychotherapie und Beratung, u.a. für Jugendliche, z.B. bei Traumatisierung oder „peinlichen“ sexuellen Störungen. Darin sah Roesler eine Chance. Denn dies ermögliche manchmal erst die Psychotherapie, auch wenn therapiebedürftige Menschen nicht mobil sind oder in entlegenen Orten weit entfernt von Angeboten wohnen und ansonsten nicht behandelt werden könnten.
Roeslers Fazit für die Psychotherapie: Es gibt Hinweise, dass in virtueller Therapie häufiger Irritationen, Missverständnisse und Störungen auftreten. Psychotherapie ist nicht einfach eine Informationsübermittlung! Die Arbeit des Psychotherapeuten ist nur zu einem geringen Teil durch Worte bedingt; mimische Prozesse spielen eine große Rolle. Die Interaktionskanäle im persönlichen Kontakt sind unverzichtbar und bisherige Beziehungsmodelle sind nicht ohne weiteres anwendbar. Er betonte: „Wir brauchen eine entsprechende Ausbildung für diese Art der Therapie“ und er plädierte für Teletherapie nur nach ausreichendem „face-to-face“-Kontakt. Er räumte aber auch ein, dass es manchmal, wenn nur Teletherapie möglich ist, diese besser sei als gar keine Psychotherapie.
6. Bayerischer Landespsychotherapeutentag in München