© DGS e.VDr. med. Richard Ibrahim, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin
Zudem zeigt sich, dass viele Patientinnen und Patienten, bei sorgfältiger Indikationsstellung und engmaschiger Kontrolle, spürbar profitieren – nicht nur hinsichtlich der Schmerzlinderung, sondern auch in Bezug auf Schlafqualität, Stimmung und Funktionsniveau. Als Versorgergesellschaft orientieren wir uns an der Realität in der Praxis – und dort hat Cannabis bei bestimmten Patienten einen festen Platz gefunden.
Wie sind Ihre eigenen Erfahrungen mit Cannabis in der Schmerztherapie?
Ich sehe Cannabispräparate als sinnvollen Bestandteil der multimodalen Schmerztherapie – nicht als Wundermittel, aber als hilfreiche Option bei therapierefraktären Verläufen. Besonders bei Menschen mit chronischen Rückenschmerzen, die auch unter Schlafstörungen oder Anspannung leiden, kann Cannabis eine gute Ergänzung sein. Wichtig ist eine strukturierte Auswahl der Patienten und die Abwägung von Nutzen und Risiken.
Wie ist die wissenschaftliche Evidenz für Cannabinoide bei Rückenschmerzen?
Die Evidenzlage ist noch nicht flächendeckend robust. Aber es gibt eine zunehmende Zahl kontrollierter Studien und systematischer Übersichtsarbeiten, die auf einen moderaten Nutzen bei chronischen Rückenschmerzen hinweisen – insbesondere, wenn konventionelle Behandlungen ausgeschöpft sind.
Wichtig ist: Cannabis ersetzt keine Therapie, sondern ergänzt bestehende Konzepte. Und ebenso wichtig: Wir müssen differenzieren zwischen spezifischem und unspezifischem Rückenschmerz.
Bei spezifischen Rückenschmerzen mit radikulärer Symptomatik (PSPS Typ2) sind vorrangig kausale oder strukturbezogene Therapien gefordert. Hier stehen etablierte Verfahren der konservativen, aber auch der invasiven Schmerztherapie zur Verfügung; etwa die Epiduroskopie oder interventionelle Techniken wie Nervenwurzelblockaden.
In chronifizierten Fällen können auch neuromodulative Verfahren wie Rückenmarkstimulation (SCS) indiziert sein. Für viele dieser Verfahren liegt eine deutlich belastbarere Evidenz vor als für Cannabinoide – das darf in der klinischen Entscheidung nicht übersehen werden.
Worauf beruht der Wirkmechanismus von Cannabinoiden?
Cannabinoide wirken über das körpereigene Endocannabinoid-System, insbesondere an den CB1- und CB2-Rezeptoren. Diese befinden sich unter anderem im zentralen Nervensystem, im peripheren Nervensystem und im Immunsystem.
Darüber modulieren Cannabinoide nicht nur Schmerzsignale, sondern auch Schlaf, Emotionen und Entzündungsprozesse – was erklärt, warum Cannabis eine breitere Wirkung entfalten kann als reine Analgetika.
Ist Cannabis bei allen schmerzhaften Rückenbeschwerden angezeigt oder nur bei bestimmten?
Nein, Cannabis ist keinesfalls eine Allzweckwaffe. Es kommt vor allem bei chronischen, therapieresistenten unspezifischen Rückenschmerzen infrage – insbesondere, wenn begleitende Symptome wie Schlafstörungen oder affektive Belastungen bestehen.
Bei spezifischen Rückenschmerzen mit klarer Strukturdiagnose – etwa spinaler Stenose oder postoperativem Schmerzsyndrom – müssen primär kausale und invasiv-konservative Schmerztherapieverfahren geprüft werden. Bei multiplen Schmerzbildern sollte auch über eine Komplementärtherapie nachgedacht werden.
Dabei ist die aktualisierte S2k-Leitlinie der AWMF zu spezifischem Kreuzschmerz zu berücksichtigen, die klare Empfehlungen zur differenzierten Diagnostik und Therapie liefert [1].
Setzen Sie Cannabis erst nach Ausschöpfen der Standardtherapien ein oder bereits früher?
Die Entscheidung sollte stets individuell getroffen werden. In manchen Fällen – etwa bei starker Polypharmazie oder Unverträglichkeit anderer Medikamente – kann ein früherer Einsatz gerechtfertigt sein, immer aber eingebettet in ein Gesamtkonzept.
Werden die Präparate dann adjuvant oder allein angewendet?
In der Regel adjuvant. Eine Monotherapie mit Cannabis ist aus meiner Sicht die absolute Ausnahme. Die Kombination mit Bewegungstherapie, psychologischen Verfahren, Physiotherapie und gegebenenfalls medikamentösen Basismitteln ist entscheidend für nachhaltigen Erfolg.
Zudem gilt: Der Einsatz von Cannabis sollte nie losgelöst von einer Beurteilung der klassischen Opioidtherapie erfolgen. Es geht nicht darum, Opioide pauschal zu ersetzen oder Cannabis als einzige Alternative zu verstehen, sondern um eine differenzierte Betrachtung innerhalb des multimodalen Spektrums.
Deshalb ist ärztliche Expertise unabdingbar. Eine fachkundige Einschätzung ist notwendig, um die richtige Substanz, das passende Verhältnis von THC zu CBD und eine geeignete Dosierung zu finden – und um Risiken zu minimieren.
Ihr Vortrag auf dem MCC firmierte unter “Cannabis und Rückenschmerzen – mehr als nur eine Schmerzreduktion”. Weshalb?
Weil der Einsatz von Cannabis eben nicht nur analgetisch wirkt. Wir sehen in der Praxis, dass Patienten oft besser schlafen, sich weniger angespannt fühlen und ihre Lebensqualität insgesamt steigt. Diese zusätzlichen Effekte – insbesondere im Bereich Schlaf und Stimmung – machen Cannabis bei chronischen Schmerzen zu einer besonderen Option im Therapiespektrum.
Welche Grenzen hat Cannabis bei Rückenschmerzen?
Die Grenzen sind dort erreicht, wo keine medizinische Indikation besteht, die Risiken überwiegen oder die Patientensicherheit gefährdet ist. Dazu zählen beispielsweise psychotische Erkrankungen, Suchterkrankungen, mangelhafte Therapietreue oder unklare Schmerzursachen.
Auch wenn ein strukturierter Behandlungspfad – einschließlich Diagnostik und multimodaler Therapie – nicht eingehalten wird, ist Cannabis fehl am Platz.
Wann sollten Cannabinoide nicht angewendet werden?
Kontraindikationen sind unter anderem bekannte Psychosen, instabile psychiatrische Komorbiditäten, aktive Abhängigkeitserkrankungen, Schwangerschaft oder Stillzeit sowie kindliches und jugendliches Alter. Hier sind Nutzen-Risiko-Abwägung und sorgfältige Aufklärung essenziell.
Wie bewerten Sie das neue Präparat VER-01?
VER-01 steht exemplarisch für eine neue Generation standardisierter Cannabispräparate, die die Arzneimittelsicherheit erhöhen könnten. Der Fokus auf definierte THC/CBD-Verhältnisse und pharmazeutische Qualität ist zu begrüßen.
Für eine endgültige Bewertung braucht es nun Daten zur klinischen Anwendung, zu Verträglichkeit und Wirksamkeit. Die DGS wird diesen Prozess in Zukunft eng begleiten.
Literatur:
1. Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie e.V.: Spezifischer Kreuzschmerz: Version 2.0