© Hausärztliche Praxis Leitsymptome
Bei Patientinnen und Patienten, denen “alles weh tut”, die zudem noch über Schlafstörungen und Erschöpfung klagen, liegt der für ein Fibromyalgiesyndrom typische Symptomkomplex vor (Tab. 1 links), der Verdacht auf diese Erkrankung liegt also nahe.
Oftmals dauert es jedoch viele Jahre, bis die Diagnose gestellt wird, insbesondere dann, wenn die Betroffenen häufig den Arzt wechseln oder wenn sie zunächst wie im obigen Fallbeispiel nur über einzelne besonders belastende Symptome klagen.
Es kommt immer wieder vor, dass Fibromyalgie-Betroffene nur die momentan im Vordergrund stehenden Beschwerden benennen, z.B. Schmerzen nur an einer Körperstelle, auch wenn sie in vielen Regionen Beschwerden haben, erklärte Dr. med. Andreas Winkelmann, Leiter der Tagesklinik für Fibromyalgie, Klinikum der Universität München.
Viele Fibromyalgie-Betroffene haben eine lange Odyssee hinter sich und beschreiben die Diagnose daher als einen entscheidenden Wendepunkt. Sie fühlen sich endlich ernst genommen und können mit Informationen über die Erkrankung und durch die Umsetzung leitlinienbasierter Therapieempfehlungen Lebensqualität gewinnen.
Variable Beschwerden
Die Symptome eines Fibromyalgiesyndroms können sehr unterschiedlich sein. Typisch sind Muskel- und/oder Gelenkschmerzen in mehreren Regionen und häufig auch funktionelle Organbeschwerden. Die Schmerzen fühlen sich oft wie ein Muskelkater oder eine Zerrung an.
Sie können jeden Tag anders sein, unterschiedlich stark sein, den Schmerzcharakter vielfältig ändern und an wechselnden Stellen im Körper auftreten. Bei körperlicher Anstrengung, aber auch in Ruhe können sich die Schmerzen verschlimmern. Oft geht die Erkrankung mit einer übermäßigen Berührungsempfindlichkeit einher.
Was ist Fibromyalgie?
Fibromyalgie bedeutet wörtlich übersetzt Faser-Muskel-Schmerz. Das Fibromyalgiesyndrom umfasst allerdings weit mehr, es ist eine chronische Erkrankung, die mit Schmerzen in mehreren Körperregionen, Schlafstörungen, Erschöpfung und häufig auch vegetativen und funktionellen Beschwerden einhergeht.
In Deutschland leiden rund 3 Prozent der Erwachsenen darunter, wobei Frauen häufiger betroffen sind als Männer. Zum Zeitpunkt der Diagnose sind die meisten Patienten 40 bis 60 Jahre alt, die Erkrankung kann aber in jedem Erwachsenenalter auftreten.
Es existieren verschiedene Faktoren, die mit der Entwicklung eines Fibromyalgiesyndroms assoziiert sind, darunter z.B. entzündlich-rheumatische Erkrankungen, Vitamin-D-Mangel, Rauchen, Übergewicht, mangelnde körperliche Aktivität, depressive Episoden sowie belastende Lebensereignisse wie körperliche Misshandlung und sexualisierte Gewalt in Kindheit oder im Erwachsenenalter [2].
In Studien nachgewiesene Veränderungen im zentralen und peripheren Nervensystem sowie ggf. auch ein immunologischer Einfluss könnten eine mögliche pathogenetische Bedeutung für die Entwicklung des Fibromyalgiesyndroms haben.
Nicht nachweisbar erscheint bisher, ob diese Veränderungen als Ursache und/oder als Folge des Fibromyalgiesyndroms bzw. gehäuft auftretender Begleiterkrankungen anzusehen sind. Für die Entwicklung dieses chronifizierten Schmerzsyndroms spielen vermutlich mehrere Faktoren eine Rolle: eine genetische sowie lerngeschichtliche Disposition sowie körperliche und/oder psychosoziale Stressoren.
Darüber hinaus können Beschwerden wie Schlafstörungen mit nicht erholsamem Schlaf bzw. Zerschlagenheit und Müdigkeit morgens sowie tagsüber auftreten. Betroffene schildern häufig auch Konzentrationsschwäche, geringe Leistungsfähigkeit und Vergesslichkeit.
Manchmal sind sie so erschöpft, dass sie ihrem Beruf nicht mehr nachgehen und Alltagsaktivitäten nicht mehr ausüben können. Die Beschwerden entwickeln sich in vielen Fällen schleichend, einzelne wenige Betroffene können zwischendurch auch wieder beschwerdefreie Phasen haben.
Fragebögen einsetzen
Um ein Fibromyalgiesyndrom zu erkennen, ist es wichtig, überhaupt daran zu denken. Klagt ein Patient seit mindestens drei Monaten über Schmerzen, dann sollte man danach fragen, ob auch in weiteren Regionen Schmerzen bestehen, rät Winkelmann. Diese Abklärung geschieht am besten mithilfe der Körperskizze, die im Deutschen Schmerzfragebogen der Deutschen Schmerzgesellschaft (DGS) enthalten ist.
Ebenfalls per Fragebogen können weitere Beschwerden und Erkrankungen wie Müdigkeit, psychische/depressive und kognitive Symptome sowie Kopf- und Bauchschmerzen abgefragt werden (Kriterien des American College of Rheumatology, ACR, Tab. 2 unten) [3]. Damit erhält man innerhalb weniger Minuten einen Hinweis darauf, ob ein Fibromyalgiesyndrom vorliegen könnte, so Winkelmann.
© Hausärztliche Praxis Beschwerdefragebogen (ACR 2016)
Wichtig erscheint außerdem, bei Vorliegen einer Erschöpfungssymptomatik auch depressive Symptome einschließlich Suizidalität abzufragen, da das Fibromyalgiesyndrom und die Depression Risikofaktoren für die Entwicklung der jeweils anderen Erkrankung sind. Etwa 80 Prozent der Fibromyalgie-Betroffenen entwickeln im Lauf des Lebens eine depressive Episode.
Liegen andere Erkrankungen vor?
Die Diagnose Fibromyalgiesyndrom wird anhand klinischer Kriterien gestellt, wie dies in der S3-Leitlinie Fibromyalgiesyndrom (aktuell in einem Aktualisierungsprozess) und in den ACR-Kriterien 2016 beschrieben wurde (Tab. 3 unten) [2, 3].
© Hausärztliche Praxis Kriterien für die Diagnose eines Fibromyalgiesyndroms
Entscheidend ist, den aufgrund der Anamnese und/oder körperlichen Untersuchung bestehenden Hinweisen auf Erkrankungen mit Strukturpathologien nachzugehen, welche die vorhandenen Symptome umfassend erklären können. Deswegen muss untersucht werden, ob andere internistische, orthopädische oder neurologische Erkrankungen für die Beschwerden verantwortlich gemacht werden können.
Schmerzen, Erschöpfung und Müdigkeit können beispielsweise auch im Zusammenhang mit unbehandelten entzündlich-rheumatischen oder endokrinologischen Erkrankungen auftreten.
Gefordert wird ein Basislabor, das Blutsenkungsgeschwindigkeit, C-reaktives Protein, Blutbild, Kreatinkinase, TSH-Wert, Kalzium- und Vitamin-D-Spiegel umfasst. Einen spezifischen Labortest oder einen radiologischen Nachweis eines Fibromyalgiesyndroms gibt es bisher nicht.
Bei Verdacht auf ein Fibromyalgiesyndrom können die Patienten an eine Spezialklinik überwiesen werden. Dies ist insbesondere auch dann sinnvoll, wenn sie unter starken Einschränkungen bei Alltagsaktivitäten leiden und damit eine deutlich verminderte Lebensqualität haben.
Fachärztinnen und -ärzte können im Zweifelsfall die Diagnose anhand der in den Leitlinien empfohlenen Kriterien stellen, die Indikation für intensivere Behandlungsprogramme prüfen und diese ggf. einleiten, mit dem Ziel vor allem Funktion und Lebensqualität zu verbessern.
Serie “Krankheiten unter dem Radar”
Mit der Serie “Gendermedizin – Krankheiten unter dem Radar” sollen Erkrankungen beleuchtet werden, die bei Männern oder Frauen zu wenig beachtet werden. Ziel ist, dass Hausärztin und Hausarzt die jeweiligen “Red Flags” erkennen und Empfehlungen zur Hand haben, bei Diagnose und Therapie richtig vorzugehen.