Bereits 2010, lange vor der Covid-19-Pandemie, zeigte eine europäische Studie, dass Selbstverletzung ein häufiges Phänomen bei Jugendlichen ist, insbesondere in Frankreich und Deutschland [1].
Wie Prof. Michael Kaess aus Heidelberg berichtet, hatten sich in Deutschland schon damals über ein Drittel aller Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren einmal selbst verletzt, etwa zehn Prozent auch mehrfach. Rund fünf Prozent der Jugendlichen beging einen Suizidversuch [2] – laut Kaess könnte sich diese Zahl seit der Pandemie noch erhöht haben.
NSSV kommt selten allein
Während regelmäßige Selbstverletzungen bei Erwachsenen für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) sprechen, ist nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) im Jugendalter keineswegs nur ein Symptom für diese Erkrankung, sondern gilt Kaess zufolge als ein “transdiagnostischer Risikomarker” für psychische Belastung und Psychopathologie.
Bei NSSV ist das Risiko für die Entwicklung einer Borderline-Störung zwar erhöht, allerdings gilt dies z.B. auch für den Alkoholkonsum. Wie Kaess verdeutlichte, können aus NSSV also auch andere bzw. keine psychischen Störungen entstehen. Eine isolierte NSSV scheint kein guter Marker für die Entwicklung einer BPS zu sein, sondern ist eher prädiktiv für eine affektive Erkrankung.
Bei einer Entwicklung in Richtung BPS wird häufig eine Kombination von NSSV mit weiteren riskanten und selbstschädigenden Verhaltensweisen wie z.B. Substanzmissbrauch beobachtet [6].
Insgesamt ist NSSV stark mit Depression und Angststörungen assoziiert, aber auch mit Störungen des Sozialverhaltens, ADHS und Beziehungsproblemen (z.B. Mobbing) [1]. Dies bestätigt auch eine klinische Untersuchung in der Ambulanz für Risikoverhalten und Selbstschädigung (AtRiSk) in Heidelberg.
Demnach weisen 97 Prozent der Jugendlichen mit NSSV eine komorbide psychische Erkrankung auf [7]. Am häufigsten handelt es sich dabei um affektive Störungen. NSSV im Jugendalter geht mit einer knapp 18-fach erhöhten Suizidrate und einer 34-fach erhöhten Alkohol- und Drogentodrate einher [8]. Somit ist Selbstverletzung ein wichtiger Risikomarker für Suizidgefahr.
Erfolge mit Kurzzeitintervention
Für die Behandlung von NSSV und Suizidalität gibt es keine pharmakologischen Optionen. Die medikamentöse Therapie komorbider Erkrankungen (z.B. Depressionen) übt Kaess zufolge nur selten einen günstigen Einfluss auf NSSV oder Suizidalität aus. Als hochwirksam gilt dagegen die Psychotherapie.
Hier sind insbesondere die Dialektisch-Behaviorale Therapie für Adoleszente (DBT-A) und die Mentalisierungsbasierte Therapie für Adoleszente (MBT-A) gut evaluiert. Randomisiert kontrollierte Studien zeigen eine klare Überlegenheit gegenüber der Standardtherapie oder verstärkter Standardtherapie (psychodynamisch orientierte Therapie oder kognitiv-behaviorale Therapie, bei Bedarf mit psychopharmakologischer Behandlung) [9,10].
Wie Kaess berichtete, standen schon vor zehn Jahren nicht genügend DBT-A-Zentren zur Verfügung, um allen Betroffenen eine Therapie anbieten zu können. Seine Lösung des Problems bestand darin (gemeinsam mit dem King’s College in London), eine Kurzzeitintervention zu entwickeln, das sog. “Cutting Down Program” (CDP).
Diese Kognitiv-Behaviorale Therapie ist modular aufgebaut und umfasst nur zehn Sitzungen. In einer randomisierten kontrollierten Studie wurde die Methode mit einer Standard-Psychotherapie (treatment as usual, TAU) verglichen [11]. Zum Ende der Kurzzeitintervention, nach drei bis vier Monaten, war die Reduktion der Selbstverletzung in der Cutting Down-Gruppe signifikant höher als in der Kon-trollgruppe. Nach dem anschließenden Follow-Up nach sechs Monaten gab es keine nennenswerten Rückfallraten in der Cutting Down-Gruppe, es bestand jedoch auch kein signifikanter Unterschied zur Kontrollgruppe mehr.
Bei der Nachbeobachtung über weitere zwei bis vier Jahre wurden analoge Verläufe der beiden Gruppen beobachtet [12]. Wie diese Ergebnisse zeigen, ist die Kurzzeitintervention ebenso wirksam wie die deutlich intensivere TAU und führt zu einer schnelleren Besserung. Kaess zufolge eignet sie sich daher sehr gut als Einstiegstherapie, wobei zu einem späteren Zeitpunkt weitere Therapiesitzungen erforderlich sein können.
Online-Version entwickelt
Basierend auf dem evaluierten CDP wurde auch eine Online-Version für Jugendliche mit NSSV entwickelt. Diese wird derzeit in einer randomisierten kontrollierten Studie (STAR, Self-injury: Treatment, Assessment, Recovery) gegenüber einer Online-Psychoedukation untersucht [13].
Wie erste, noch unveröffentlichte Ergebnisse einer Zwischenauswertung mit 370 überwiegend weiblichen Teilnehmenden belegen, tritt in der CDP-Gruppe ein deutlich verringertes selbstverletzendes Verhalten auf, während es in der Gruppe mit Online-Psychoedukation zu einem leichten Anstieg kommt. Kaess ist optimistisch, dass die relativ kosteneffektive, niederschwellige CDP-Online-Therapie die Selbstverletzung bei Jugendlichen substanziell verringern kann.
Literatur:
- Brunner R et al. J Child Psychol Psychiatry 2014; 55(4):337-48
- Cotter P et al. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 2015; 50(6):973-82
- Plener PL et al. Borderline Personal Disord Emot Dysregul 2015; 2:2
- Ystgaard M et al. J Adolesc 2009; 32(4):875-91
- Lustig S et al. J Psychiatr Res 2021; 140:60-67
- Ghinea D et al. Psychiatry Res 2019; 273:127-133
- Kaess M et al. Prax Kinderpsychol Kinderpsychiatr 2017; 66(6):404-422
- Morgan C et al. BMJ 2017; 359:j4351
- Kothgassner OD et al. Psychol Med 2021; 51(7):1057-1067
- Rossouw T et al. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 2012; 51(12):1304-1313.e3
- Kaess M et al. Eur Child Adolesc Psychiatry 2020; 29(6):881-891
- Rockstroh F et al. Psychother Psychosom 2023; 92(4):243-254
- Kaess M et al. Trials 2019; 20(1):425
Quelle: Online Vortragsreihe Oberbergkliniken: “Selbstverletzungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen – Differentialdiagnostik und Therapie” mit Prof. Michael Kaess.