Viele offene Fragen, Lieferengpässe und fehlende Zuständigkeiten während der Pandemie haben Ärztinnen und Ärzte für kommende Extremsituationen sensibilisiert. Bis auf den letzten Platz ist der practica-Workshop “Die wehrfähige Hausarztpraxis – was kommt im Kriegsfall auf Hausarztpraxen zu?” besetzt.
Den teilnehmenden Hausärztinnen und Hausärzten brennt vieles unter den Nägeln: Wer ist zuständig für sie, wenn denn tatsächlich der Bündnisfall eintritt? Wie können sie sich darauf vorbereiten? Wie sieht es mit der Medikamentenversorgung aus? Wer koordiniert im Fall der Fälle und wie sind die Zuständigkeiten?
Versorgung mit Medikamenten sicher?
Gibt es fest definierte Kontaktadressen/-personen? Werden Praxen zu bestimmten Diensten verpflichtet oder gibt es Freiwilligendienste? Wer kümmert sich um die Funktionsfähigkeit bzw. Sicherheit der IT? Was passiert, wenn der Strom ausfällt? Gibt es auch medizinische Fortbildungen, um die Versorgung (leichter) Kriegsverletzungen übernehmen zu können?
Die Fragen, die Hausärztinnen und Hausärzte bewegen, beruhen nicht nur auf den Lehren der Pandemie, sondern sind auch Informationen aus dem Ukraine-Krieg geschuldet. Die ambulante Versorgung sei dort teils komplett zusammengebrochen – die Patientinnen und Patienten, die auf Medikamente angewiesen waren, seien einfach verstorben, berichtet eine Hausärztin beim Workshop.
Viel Wissen verloren gegangen
Oberfeldärztin Martina Hojka, die seit 1993 bei der Bundeswehr tätig ist, erklärt, dass seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs vor vier Jahren ein Umdenken stattgefunden und ein massives Umstellen auf die Bündnis-/Landesverteidigung begonnen habe. In den langen Friedenszeiten zuvor sei “vieles verloren gegangen”, auch medizinisches Wissen.
Da Deutschland in der EU zentral gelegen ist und als Drehscheibe fungieren werde, würden alle Transport- und auch Flüchtlingsströme durch Deutschland führen, erklärte Hojka.
Wenn die Truppen an die Ostflanken verlegt werden, werde auch die ärztliche Versorgung der Soldaten durch die Bundeswehr reduziert werden. “Dann müssen wir auf viele Systeme zurückgreifen”, für diejenigen, die im Inland bleiben oder verletzt zurückkommen, sagt Hojka.
Vertragsärzte: Einbindung erfolgt freiwillig
Laut dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zur ärztlichen Versorgung der Bundeswehr (hier Anlage 5) kann die Bundeswehr Vertragsärzte mit deren Zustimmung anstelle von Sanitätsoffizieren mit der ärztlichen Versorgung beauftragen.
Dann kann eine vollständige Betreuung von Soldatinnen und Soldaten in der Praxis inklusive Krankschreibungen, Facharzt-, Zahnarzt- oder Krankenhauseinweisungen inklusive Rezeptausstellungen erfolgen.
Bei einer “Eskalation”, so die Oberfeldärztin, werden pro Tag 500 bis 1.000 Patientinnen und Patienten zusätzlich erwartet, die versorgt werden müssten. Davon seien laut Hochrechnung circa 33,6 Prozent intensivpflichtig, ca. 22 Prozent pflegebedürftig und ca. 44,4 Prozent leicht verletzt. Die Integration des zivilen Gesundheitssystems sei dann erforderlich.
Medikamente bevorraten
Notfallbehandlungen müssten immer unter Vorlage des Truppenausweises erfolgen, ein Schein muss nicht angelegt werden, so Hojka.
Auf der Rückseite des Truppenausweises steht eine Personalkennziffer, die für die Abrechnung mit der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) aufgenommen werden muss. Die Behandlung im Akutfall sollte sich auf notwendige Leistungen beschränken.
Rezepte und Hilfsmittel dürfen nur im Notfall verordnet werden und müssen mit “Bw” und “Notfall” gekennzeichnet werden, erläutert die Referentin.
Gesundheitssicherungsgesetz in Arbeit
Derzeit arbeite das Bundesgesundheitsministerium noch an einem Gesundheitssicherungsgesetz. Die vorherige Koalition habe das eher verschleppt, die neue Koalition drücke auf die Tube. Mit dem Referentenentwurf sei voraussichtlich im Frühjahr zu rechnen.
Was die Versorgung mit Medikamenten angeht, rät Hojka dazu, dass sich Patientinnen und Patienten bevorraten – rund sechs Monate sollten abgedeckt sein.
Das ist aber, aufgrund gesetzlicher Bestimmungen nicht möglich, weisen die Workshopteilnehmenden hin. Auch nicht benötigte oder abgelaufene Arzneimittel dürften nicht mehr verwendet oder weitergegeben werden.
Abgelaufenes nicht wegwerfen
Die Politik, so Co-Referent Dr. Nicolas Kahl, müsste es daher Ärztinnen und Ärzten ermöglichen, dass diese freier handeln könnten und nicht etwa Regresse fürchten müssten.
Vielleicht, sagt Hojka, können Sie schon mal eine neue Verordnung tätigen, wenn etwa noch sieben Tabletten vorhanden sind. Dann sei schnell ein Vorrat von vier Wochen aufgebaut.
Auch abgelaufener Sprechstundenbedarf oder abgelaufene Medikamente könnten – statt sie zu entsorgen – für Engpässe zum Beispiel erstmal im Keller gelagert werden.
Behörden Denkanstöße geben
Oft sind es auch ganz einfache Dinge, die im Ernstfall fehlen könnten, sagt Hojka. So rät sie dazu, doch noch den ein oder anderen Kugelschreiber in der Schublade zu haben, genauso wie einen Stapel Papier.
“Bereiten Sie sich auf einen möglichen analogen Betrieb von zwei bis drei Monaten vor”, rät die Oberfeldärztin. Sollten Geräte sterilisiert werden müssen, haben Zahnarztpraxen oder auch Labore oft noch Möglichkeiten, die in den Hausarztpraxen nicht mehr gegeben sind.
Ob Fortbildungen, Medikamentenverordnungen, Bevorratungen – Hausärztinnen und Hausärzten rät Hojka, Probleme und Herausforderungen an Behörden und Selbstverwaltung heranzutragen und so Denkanstöße zu geben.
Zurück an die Front?
Ob verwundete Soldaten nach ihrer Genesung möglicherweise wieder an die Front müssen, müssen niedergelassene Ärztinnen und Ärzte nicht entscheiden, beruhigt Hojka. Das sei eine schwere Bürde, die die Ärztinnen und Ärzte der Bundeswehr zu tragen hätten.
Zunächst würde die Bundeswehr 2026 mit einer Datenerfassung bei den jungen Menschen beginnen und bestimmte Daten abfragen, um ein “Lagebild herzustellen”. Dies sei nur in Bruchteilen vorhanden – bislang sei Deutschland nicht in der Lage zu sagen, wie viele Reservisten verfügbar sind.
Die erste Abfrage habe mit medizinischen Daten noch nichts zu tun. Es werde beispielsweise Größe und Gewicht abgefragt, da etwa Transportliegen, Panzereinstiegsöffnungen, Luken, Kleidung etc. nur bis zu einem gewissen Gewicht und einer Größe konzipiert oder vorgehalten werden.
Auch würde nach Schulabschlüssen und Weiterbildungen gefragt sowie, ob Interesse besteht, einen freiwilligen Dienst bei der Bundeswehr zu leisten.
Wehrfähigkeit nach Katalog beurteilen
Eine Musterung oder ob die Männer für den Wehrdienst geeignet sind oder nicht, erfolge vermutlich dann ab 2027/2028. Die Musterung durch eine Hausarztpraxis ist bislang nicht vorgesehen, erläuterte Hojka.
Vielmehr werden Hausärztinnen und Hausärzte es in Zukunft sicher mit Wehrpflichtigen zu tun bekommen, die dem Dienst entkommen möchten.
Hojka empfiehlt, die folgenden Informationen an andere Kolleginnen und Kollegen in den Praxen weiterzugeben: Entscheidend sei der Katalog ARD-831/0-4000c “Gesundheitsziffern und Anforderungssymbole”.
Bei psychischen Erkrankungen reicht Attest nicht
Der Katalog umfasse 300 Seiten, die Schweregrade IV, V und VI würden eine Wehrpflicht ausschließen.
Immer sei ein Befund wichtig, nur ein Attest reiche nicht aus. Bei psychischen Erkrankungen, sagt Hojka weiter, sollte ein Psychologe einen Befundbericht erstellen.
Wichtig ist der Bundeswehr, dass der junge Mensch gemeinschafts- und anpassungsfähig und keine Gefahr für sich selbst oder andere darstellt.
