© Hausärztliche PraxisHausärztliche Typen innerhalb des Samples (N=36)
Der erste Typus (“die Resignierten”) fällt durch eine negative Sichtweise auf das hausärztliche Adipositasmanagement, betroffene Patienten, die Bereitschaft zur Versorgung und die Selbstwirksamkeitsannahmen auf. Die Befragten berichten, dass sie mangelnde Compliance und zahlreiche Rückschläge bei therapeutischen Interventionen beobachten mussten, die bei Patienten zu ernsthaften Langzeitschäden und verstärkten Mortalitätsrisiken geführt haben.
Als Resultat jahrelanger Frustrationserfahrungen zweifelt diese Gruppe daran, dass Hausärztinnen und Hausärzte in der Lage sind, Adipositasbetroffene effektiv zu managen. Vielmehr sollten hier ihnen zufolge Spezialisten agieren, möglicherweise unter Einsatz medikamentöser, psychotherapeutischer oder ggf. chirurgischer Lösungen, die sie angesichts mangelnder Veränderungsbereitschaft der Patienten als letzte Option sehen.
Die anderen drei Typen zeigen einen aufgeschlossenen und aktiven Umgang mit Adipositas, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Sie betrachten die Hausarztpraxis als wichtige Instanz, um Patienten im Prozess der Gewichtsabnahme zu begleiten.
Der zweite Typus (“die Trainer”) beinhaltet Hausärzte, die Adipositas primär als eine Kombination aus Lebensumständen und Veranlagung betrachten. Sie nehmen die rechtzeitige Diagnostik ernst und legen gesonderten Wert darauf, Patienten an ein strukturiertes Bewegungs- und Ernährungsprogramm heranzuführen.
Im Kontext dieses Vorgehens berichten sie von Therapieerfolgen. Bei diesen Ärzten ist bemerkenswert, dass sie in ein kommunales Netzwerk der Bewegungs- und Gesundheitsförderung integriert sind und über gut funktionierende informelle Kontakte vor Ort verfügen. Allem voran gilt dies für die Zusammenarbeit mit Fitnessstudios, Selbsthilfegruppen sowie Ernährungs- und Gesundheitsberatern.
Die Möglichkeit, Patienten unkompliziert an verlässliche Sport- und Gesundheitsangebote zu vermitteln, erachten sie als essenziell, um Betroffene hinreichend unterstützen zu können. Essenziell sei zudem, dass der Patient den “Wechsel aus sich heraus” schaffe und seine Alltagsroutinen nachhaltig umstelle. Hierbei können aus Sicht der Befragten auch Gesundheits-Apps zur Motivation bzw. Tagesregulation hilfreich sein.
Den Einsatz von Medikamenten und chirurgischen Verfahren lehnen sie “bis auf absolute Notfälle” vehement ab, da sie nicht zuletzt Jo-Jo-Effekte befürchten. Auch der dritte Typus (“die Motivatoren”) schließt derartige Lösungen weitgehend aus. Anders als die “Trainer” sehen die Befragten in diesem Cluster ihre vordringliche Aufgabe darin, bei den Patienten durch intensive psychosoziale Unterstützung, Motivation und Bestärkung die Erkenntnis reifen zu lassen, dass es erstrebenswert ist, seinen Lebensstil zu ändern.
Den Befragten ist eine sensible Kommunikation und partnerschaftliche Arzt-Patient-Beziehung besonders wichtig. Zentral sei es, den Patienten ausreichend Beratungszeit einzuräumen und auch bei therapeutischen Rückschlägen immer wieder das Gespräch zu suchen.
Einige “Motivatoren” haben eine Zusatzweiterbildung Psychotherapie bzw. Psychoanalyse absolviert und halten derlei Kenntnisse für ein längerfristig erfolgreiches Adipositasmanagement für wertvoll. Ähnlich wie die “Trainer”, die im sportlichen Bereich kommunal verankert sind, lässt sich auch hier eine Vernetzung beobachten, allerdings mit psychosozialen Betreuungs- und Unterstützungsangeboten.
Der vierte Typus (“die Präventionsorientierten”) erscheint als Variation der beiden vorangegangenen. Zwar betreut auch diese Gruppe Patienten mit Adipositas aktiv und initiiert therapeutische Maßnahmen, allerdings liegt ihr Fokus auf der Prävention. So komme es darauf an, die Entstehung starken Übergewichts bei Patienten “möglichst systematisch” zu verhindern, indem frühzeitig auf Risikofaktoren hingewiesen und die Voraussetzungen für einen gesunden Lebensstil geschaffen werden.
Befragte in dieser Gruppe nehmen vor allem den Gesundheits-Check-up als “Frühwarnsystem” sehr ernst und haben sich teilweise ernährungsmedizinisch fortgebildet; sie legen großen Wert auf einen regelmäßigen Patientenkontakt und eine konsequente Aufklärung. Auch durch die kontinuierliche Ermittlung der entsprechenden Blutwerte könnten Risikofaktoren frühzeitig erkannt und im Blick behalten werden. Zu ihrer Unterstützung involvieren die “Präventionsorientierten” das Praxispersonal.
Optimierungspotenzial
Über alle Cluster hinweg räumen die Befragten ein, dass sich das erfolgreiche Management der Patienten oft zeitintensiv darstelle sowie viel ärztliches Engagement und bei therapeutischen Fehlschlägen Neuanläufe erfordere. Moniert wird ein ausgeprägter Mangel an Strukturen und Akteuren, die Hausärzte bei der Adipositasprävention und beim therapeutischen Management unterstützen können.
Wiederkehrend konstatieren Befragte, dass Hausärzte bei der Betreuung und Behandlung adipöser Patienten oft “ziemlich allein gelassen” seien; besonders in ländlichen Gegenden fehle es an niedrigschwelligen Beratungs- und Motivationsangeboten.
Zudem forderten einige Interviewte, angesichts der gestiegenen Zahl Übergewichtiger auch ein Disease-Management-Programm Adipositas einzuführen. Mittlerweile ist ein entsprechender Beschluss des G-BA in Kraft getreten: Seit 1. Juli 2024 können die gesetzlichen Krankenkassen regionale Verträge für ein DMP Adipositas abschließen.
Fazit
Die Interviews zeigen, dass trotz zuweilen auch skeptischer Positionen bei der Mehrheit der befragten Hausärztinnen und Hausärzte eine hohe Bereitschaft und Sensibilität vorhanden ist, übergewichtige und adipöse Patienten zu betreuen und therapeutisch zu begleiten. Dabei wählen sie zur Stabilisierung und Motivierung unterschiedliche Strategien und Schwerpunkte.
Die Ergebnisse fügen sich in die bestehende Studienlage, derzufolge Adipositas unter Ärzten ein durchaus polarisierendes Krankheitsbild ist und je nach Einstellung einen unterschiedlichen Grad an Betreuungs- und Versorgungsbereitschaft nach sich zieht [8-17]. Zudem reflektieren die Resultate die bislang oft defizitären Strukturen in der Adipositasversorgung sowie eine bislang nicht ausreichende Finanzierung von Ernährungs-, Bewegungs- und medikamentösen Therapien durch die Krankenkassen [18, 19].
Lange Zeit fehlte es an strukturierten und zugleich individualisierbaren Therapiekonzepten, in denen Patienten vom Hausarzt kontinuierlich im Prozess ihrer Lebensstiländerung unterstützt werden können [8, 9, 16, 18]. Inzwischen ist ein DMP Adipositas eingerichtet worden; dennoch wird es auch in Zukunft weiter darauf ankommen, strukturierte Versorgungsangebote auf die hausärztliche Versorgungsrealität zuzuschneiden.
o kann es Hausärzten noch besser möglich sein, eine individuelle Beratung und therapeutische Begleitung sowie die Koordination innerhalb einer multidisziplinären Adipositasversorgung zu übernehmen [20-24].
Hausärzte sollten insgesamt in ihrer Vermittlerrolle bestärkt werden, indem sie Adipositaspatienten je nach Bedarf in ein Netzwerk weiterer Hilfen einbinden. Eine Diagnose Adipositas sollte insofern mit konkreten Handlungsempfehlungen verbunden werden (Ernährung, Bewegung).
Hier geben bestehende Leitlinien weitere Hilfestellung und Orientierung [22]. Fast alle gesetzlichen Krankenkassen bieten Präventionsprogramme an; Ähnliches gilt für Gesundheitsämter, die oft einen guten Überblick über Kurs- und Beratungsangebote im Landkreis haben.
Auch kann bei problematischem Gewichtsverlauf eine Ernährungsberatung auf Muster 16 beim Diätassistenten verordnet werden. Ferner können gezielte Überweisungen sinnvoll sein, etwa zum Psychotherapeuten bei psychischer Grunderkrankung oder Depression oder zum Endokrinologen zwecks Abklärung hormoneller Ursachen [25, 26].
Interessenkonflikte: Die Autoren haben keine deklariert.
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