© Dr. Mehrländer Dr. Kai Mehrländer, Internist und Hausarzt in Barmstädt, Koautor der Nationalen Versorgungsleitlinie Typ-2-Diabetes
Kritisch bewertet der Koautor der Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) Typ-2-Diabetes zudem die derzeitigen Glukose-Grenzwerte. So war 2003 vor allem wegen der präanalytischen Glykolyse nach der Blutentnahme der Grenzwert der Nüchternplasmaglukose auf zuletzt ≥100 mg/dl (5,6 mmol/l) gesenkt worden.
Die WHO, ebenso wie auch die DEGAM und AKdÄ, favorisiert hingegen einen Grenzwert von 110 mg/dl. Der Nüchternblutzucker schwanke intraindividuell von Tag zu Tag stark. Zudem ist die Bestimmung der Nüchternplasmaglukose nur nach sofortiger Zentrifugation des Serums oder in Röhrchen mit glykolysehemenden Zusätzen gestattet [7]. Damit sei die damalige Begründung für die Absenkung des Nüchterngrenzwerts obsolet, meint Mehrländer.
Und der orale Glukosetoleranztest (oGTT) sei nur dann mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse und retinale Mikroangiopathie assoziiert, wenn eine Glukosetoleranzstörung tatsächlich in einen T2D münde. Daher liefere der oGTT – außer beim Gestationsdiabetes – keinen therapierelevanten Zusatznutzen. Dafür sei er aufwendig, teuer und schlecht reproduzierbar (Schwankung ±15 Prozent).
Auch den „Graubereich“ zwischen 100 bzw. 110 und 125 mg/dl kritisiert Mehrländer. Denn nicht jeder im Graubereich erhöhte Blutzucker mündet in einen manifesten Diabetes: die jährlichen Progressionsraten liegen bei fünf bis 10 Prozent, ein ähnlicher Prozentsatz erreicht die Remission zur Normoglykämie [8]. Es sei absurd, ein Medikament gegen eine Erkrankung zu geben, die noch gar nicht bestehe, meint Mehrländer.
Reviews und Metaanalysen bei erhöhtem Nüchternblutzucker haben keine wesentlichen Effekte von Diät oder Bewegung allein auf das Diabetesrisiko oder auf das Risiko Diabetes-assoziierter Erkrankungen ergeben, allenfalls die Kombination von intensiver Diät und Bewegung kann die Häufigkeit von Diabeteserkrankungen leicht vermindern [9, 10].
Ebenso sieht Mehrländer keine relevanten Effekte für Medikamente wie Metformin, DPP-4-Hemmer oder Insulinsekretagoga auf das Risiko Diabetes-assoziierter Erkrankungen.
Der Internist warnte vor Schäden durch Überdiagnosen und Übertherapie. Aus asymptomatischen, gesunden Menschen würden Kranke gemacht, verbunden mit Angst, Stigmatisierung sowie einem Eingriff in den persönlichen Lebenswandel.
Eine erhöhte Nüchternplasmaglukose oder eine Glukosetoleranzstörung sei weder eine Erkrankung noch eine Vorstufe des Diabetes mellitus, sondern allenfalls ein Risikofaktor für die Entwicklung eines Typ-2-Diabetes. Ein Prädiabetes existiere nicht und werde auch in der NVL nicht mehr erwähnt. Er plädierte für die Abschaffung des „Graubereiches“ bis 126 mg/dl.
Quelle: XXXIV. Internationaler Fortbildungskurs in praktisch-klinischer Diabetologie in Jena
Mögliche Interessenkonflikte:
Dr. Johanna Brix: Honorare von AstraZeneca, Boehringer Ingelheim, Eli Lilly, MSD, Novo Nordisk, Sanofi Aventis
Dr. Kai Mehrländer hat keine Interessenkonflikte angegeben.
Literatur:
Huang JY et al. Diabetes Care 2023; 46:190-96
Lind M et al. Diabetes Care 2021; 44:2231-2237
Cai X et al. BMJ 2020; 370:m2297
Vistisen D et al. Diabetes Care 2018; 41:899-906
Carlsson LMS et al. Lancet Diabetes Endocrinol 2017; 5:271-279
Simmons RK et al. Lancet 2012; 380:1741-48
Kantartzis K et al. Innere Medizin 2023; 64:636-641
Richter B et al. Cochrane Database Syst Rev 2018; 10:CD012661
Hemmingsen B et al. Cochrane Database Syst Rev 2017; 12:CD003054
Zucatti KP et al. Diab Care 2022; 45:2787-95
© www.diabetes-brix-feder.at Privatdozentin Dr. Johanna Brix, Diabeteszentrum Wienerberg, Wien
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