In einer Zeit, in der die Medizin zunehmend durch Technologie, Effizienz und ökonomischen Druck geprägt ist, stellt sich die grundlegende Frage: Genügen Fachwissen, Daten und technische Abläufe allein, um dem Menschen in seiner Krankheit gerecht zu werden? Der Praxisalltag, insbesondere im hausärztlichen Bereich, zeigt uns immer wieder, dass die Begegnung mit dem Patienten weit über rein medizinische Aspekte hinausgeht.
Wenn wir als medizinisches Personal Unfreundlichkeit oder Ungeduld von Patienten erleben, empfinden wir dies oft als Zumutung. Doch diese Gefühle sind meist Symptome einer tieferen Spannung – einer Diskrepanz zwischen der Erwartung an unseren Beruf und seiner gelebten, oft herausfordernden menschlichen Realität. Dieser Artikel beleuchtet, warum die Barmherzigkeit nicht nur ein optionales Beiwerk, sondern das unverzichtbare Fundament unserer Heilkunst ist.
Dienen als Tugend des Respekts
Der Begriff “Dienen” mag für viele in der modernen Medizin altmodisch oder sogar unvereinbar mit einer professionellen Haltung klingen. Doch wie der Kulturwissenschaftler Asfa Wossen Asserate in seinem Buch “Manieren” erklärt [2], bedeutet Dienen keineswegs Unterwerfung, sondern eine Tugend, die auf gegenseitigem Respekt beruht.
Abgeleitet vom lateinischen “servus”, einer Grußformel, die Demut und Hilfsbereitschaft ausdrückt, verweist Dienen auf eine Haltung, die den anderen in den Mittelpunkt stellt.
Für die ärztliche Praxis bedeutet das, dass ein ungeduldiger oder unfreundlicher Patient selten von Natur aus schwierig ist, sondern oft Ausdruck von Angst, Unsicherheit oder Leiden. Die Aufgabe des Mediziners ist es, diese Signale nicht als persönliche Beleidigung, sondern als Aufforderung zu verstehen, den Menschen in seiner konkreten Not zu sehen.
Wie Søren Kierkegaard es formulierte [1]: “Wenn es einem wirklich gelingen soll, einen Menschen zu einer bestimmten Stelle zu führen, muss man zuallererst darauf achten, ihn dort zu finden, wo er ist, und dort beginnen.”
Barmherzigkeit als Kraftquelle
Barmherzigkeit ist das innere Mitgefühl, das jede ärztliche Tätigkeit trägt und die Medizin von einer rein technischen Dienstleistung unterscheidet. Albert Schweitzer betonte [3], dass der Arzt nicht nur Krankheiten behandelt, sondern Menschen in Not beisteht. Seine “Ehrfurcht vor dem Leben” macht deutlich: Ohne gelebte Barmherzigkeit “vertrocknet” die Medizin wie eine Pflanze ohne Wasser.
Dies wird besonders in der Palliativversorgung sichtbar, wo menschliche Nähe, Empathie und Trost oft entscheidender sind als jede medizinische Maßnahme [4]. Ein auf Barmherzigkeit basierendes Vertrauen zwischen Arzt und Patient ist ein essenzieller Heilfaktor, der über die technische Behandlung hinausgeht.
Ein häufiges Problem im medizinischen Alltag ist die emotionale Überforderung. Es wird oft gelehrt, sich vom Leid der Patienten innerlich abzugrenzen. Der Ansatz der Barmherzigkeit bietet hier eine Alternative: Mitgefühl wird zur Ressource statt zur Last. Das Leid kann bewusst “abgegeben” werden, beispielsweise durch einen stillen Moment oder ein kurzes Ritual des Loslassens, sodass Empathie erhalten bleibt, ohne zu erdrücken.
Viktor Frankl [5], [13] und Paracelsus [6] betonten bereits, dass der Arzt nicht der Bezwinger der Krankheit sei, sondern der Assistent des natürlichen Heilungsprozesses. Diese Haltung schenkt nicht nur dem Patienten Hoffnung, sondern auch dem Therapeuten selbst innere Kraft.
Tief in der Geschichte verwurzelt
Die dienende und barmherzige Dimension der Medizin ist tief in ihrer Geschichte verwurzelt. Bereits der Eid des Hippokrates [10] verankert die Verpflichtung, zum Wohle des Kranken zu handeln und Schaden abzuwenden.
Pellegrino [7],[16] und Maio [8] beschreiben die Heilkunst als einen genuin moralischen Akt, der ohne gelebte Moral seine Orientierung verliert. Die ärztliche Berufung ist demnach nicht nur die Anwendung von Wissen, sondern ein Ruf zur Hingabe und Mitmenschlichkeit [3, 9].
Barmherzigkeit, die auf Respekt, Empathie und Demut basiert, ist damit die wahre Kernkompetenz, die die Medizin in Zeiten der Digitalisierung menschlich und bedeutungsvoll macht.
Fazit für die Praxis
- Barmherzigkeit ist eine aktive Haltung: Sie ist nicht passiv, sondern eine bewusste Entscheidung, dem Patienten mit Demut zu begegnen, unabhängig von seinem Verhalten. [15]
- Mitgefühl schützt und stärkt: Das Leid des Patienten kann durch einen bewussten Prozess des “Abgebens” verarbeitet werden, was den Arzt vor emotionaler Überforderung schützt [13]
- Vertrauen als Heilfaktor: Eine auf Barmherzigkeit basierende Beziehung schafft die notwendige Vertrauensbasis, die für den Heilungsprozess entscheidend ist. [16]
- Menschlichkeit ist Kernkompetenz: In Zeiten der Digitalisierung bleibt die Barmherzigkeit die zentrale Fähigkeit, die die Medizin von einer reinen Technik unterscheidet. [17]
Weiterführende Literatur
- Kierkegaard, Søren: Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller. In: Gesammelte Werke, 33. Abteilung. Herausgegeben und übersetzt von E. Hirsch, Diederichs Verlag,
- Asserate, Asfa-Wossen: Manieren. Frankfurt am Main: Eichborn Verlag, 2003.
- Schweitzer, Albert: Aus meinem Leben und Denken. C.H. Beck, München 1931.
- Lorenzl, L.: Gebete mit Schwerkranken, Haben Sie Mut zur Spiritualität. In: MMW-Fortschr. Med., Nr. 51-52 / 2009 (151. Jg.).
- Frankl, Viktor: Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Originaltitel: The Doctor and the Soul.
- Paracelsus, Theophrastus von Hohenheim: Sämtliche Werke in 14 Bänden. I. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. Herausgegeben von Karl Sudhoff. München und Berlin 1922-1933.
- Pellegrino, Edmund D.: A Philosophical Basis of Medical Practice: Toward a Philosophy of the Art of Healing. 1981.
- Maio, Giovanni: Dem Patienten dienen. Warum die Heilkunst Vertrauen braucht. 2018.
- Schweitzer, Albert: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. 2. Aufl. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1913.
- Hippokrates: Über die Heilkunst. Aus dem Griechischen übersetzt von Richard Kapferer. Leipzig: Insel-Verlag, 1943.
- Frick, E., & Tress, W. (Hrsg.). (2009). Fallbuch Spiritualität in Psychotherapie und Psychiatrie. Vandenhoeck & Ruprecht.
- Schatz, K. (2006). Ignatius von Loyola: Leben, Werk, Spiritualität. Herder.
- Frankl, V. E. (1946). Man’s Search for Meaning. Beacon Press.
- Illich, I. (1975). Medical Nemesis: The Expropriation of Health. Marion Boyars Publishers.
- Nussbaum, M. C. (2001). Upheavals of Thought: The Intelligence of Emotions. Cambridge University Press.
- Pellegrino, E. D., & Thomasma, D. C. (1988). For the Patient’s Good: The Restoration of Beneficence in Health Care. Oxford University Press.
- Verghese, A. (2018). The Pen and the Stethoscope. W. W. Norton & Company.
