© Universität Bielefeld/Ralf E. Ulrich Prof. Doris Schaeffer
Prof. Doris Schaeffer
Prof. Doris Schaeffer ist fest an der Universität Bielefeld verankert: Seit 1997 war sie hier Professorin für Gesundheitswissenschaften, Schwerpunkt Versorgungsforschung / Pflegewissenschaft, seit 2018 ist sie als Seniorprofessorin tätig.
Sie war unter anderem Mitglied des Expertenbeirats “Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs” (2012-2016) sowie des Sachverständigenrats Gesundheit und Pflege (2010-2014).
Ihr Fokus liegt neben der Pflege auf der Gesundheitskompetenz: Seit 2012 leitet sie die drei Kohorten des Health Literacy Surveys für Deutschland (HLS GER 1, 2 und 3) sowie weitere Studien zum Thema und hat die Erarbeitung eines Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz verantwortet (mehr dazu: www.nap-gesundheitskompetenz.de )
Prof. Doris Schaeffer: Unsere Untersuchungen zeigen, dass das ein unverhoffter Nebeneffekt der Corona-Pandemie sein könnte. Während der Pandemie haben sich die Menschen sehr gezielt mit Gesundheitsthemen auseinandergesetzt – vielleicht so stark wie nie zuvor. Das Thema Gesundheit ist in den Fokus der Gesellschaft gerückt, und gleichzeitig gab es sehr viele – wenn auch Corona-spezifische – Gesundheitsinformationen.
Das heißt aber, dass die Erfolge eher Zufall als Ergebnis politischer Anstrengungen sind?
Ja. Größere Anstrengungen, die Gesundheitskompetenz zu verbessern, wurden in Deutschland auf politischer Ebene bis heute leider kaum ergriffen. Das Thema hatte unter Hermann Gröhe (CDU) großes Gewicht, als es erstmals aufkam. Die nachfolgenden Gesundheitsminister haben dem Thema jedoch keine nennenswerte Bedeutung beigemessen. Heute wird das Thema zwar als zunehmend wichtig erkannt, auch bei den Krankenkassen und den Verbänden, dennoch müsste deutlich mehr zur Förderung der Gesundheitskompetenz getan werden.
Neben den geringfügigen Verbesserungen bleibt problematisch, dass Menschen mit niedrigem Sozialstatus und Bildungsniveau weiterhin eine überdurchschnittlich geringe Gesundheitskompetenz vorweisen (73,3 Prozent bzw. 71,1 Prozent). Sprich: Die Menschen, die man am dringendsten erreichen müsste, erreicht man weiterhin nicht.
Wir haben in der Tat eine sehr bedenkliche Entwicklung: Der soziale Gradient, also das soziale Gefälle, verstärkt sich. Das bedeutet: Menschen aus den niedrigeren sozialen Schichten haben eine geringere Gesundheitskompetenz. Das ist dramatisch, nicht nur weil es eine Spaltung in der Gesellschaft aufzeigt, sondern weil die Krankheitslast hier besonders hoch ist.
Die Schlussfolgerung hieraus lautet, dass wir uns stärker um diese Gruppen kümmern und Strategien dazu entwickeln müssen, wie wir sie erreichen. Ich denke da an aufsuchende Angebote wie den Impfbus während der Corona-Pandemie. Fest steht aber auch: Der Hausarzt ist derjenige, der diese Schichten auf jeden Fall erreicht – hier gehen Menschen immer hin.
Welche Rolle spielen Hausärztinnen und Hausärzte bei der Verbesserung der Gesundheitskompetenz?
Hausärztinnen und Hausärzte spielen dabei eine ganz bedeutende Rolle. Auch das zeigen unsere Studien. Wir haben in unseren Fragebogen zur Gesundheitskompetenz einen Passus integriert, der international nicht vorgesehen ist, in dem wir nach dem Informationsverhalten und den Top-3-Informationsquellen bei Anliegen zu Gesundheit und Krankheit fragen. Da stehen Hausärztinnen und Hausärzte – nicht nur bei uns, sondern auch in anderen ähnlichen Studien – regelmäßig ganz oben. Sie sind diejenigen, an die sich Menschen auf der Suche nach Informationen wenden.
Health Literacy Survey (HLS)
Die Studie HLS-GER 3 (April 2024 bis Juni 2026) ist Teil des “WHO Action Network on Measuring Population and Organizational Health Literacy (M-POHL)”. Sie knüpft an den ersten und zweiten Europäischen Health Literacy Survey (HLS-EU, 2009-2012; HLS 19, 2019-2021) an.
Auch konzeptionell und methodisch orientieren sich die Studien aneinander, was einen direkten Vergleich zulässt. Ein interdisziplinäres Forschungsteam der Universität Bielefeld, der Charité Berlin und der Hertie School hat hierfür eine repräsentative, persönliche Befragung von knapp 2.650 Personen über 18 Jahren in Deutschland durchgeführt.
Zentrales Ergebnis der dritten Kohorte: Die Gesundheitskompetenz in Deutschland hat sich leicht verbessert – um 3,1 Prozentpunkte.
Link-Tipp: Factsheet mit den wichtigsten Ergebnissen der aktuellen Kohorte: www.hausarzt.link/JEkpF
Was bedeutet das im Praxisalltag?
Ärztinnen und Ärzte stehen dem Thema oft ambivalent gegenüber. Denn natürlich ist der autonome, gut informierte Patient das Idealbild – aber im Praxisalltag kostet es enorm viel Zeit, hinreichend auf Fragen einzugehen. Verschärft wird das durch kursierende Fehlinformationen.
Ärztinnen und Ärzten fehlen die Rahmenbedingungen, fehlinformierten Patienten gut zu begegnen. Einerseits aus einem Mangel an Zeit, andererseits weil es schlichtweg schwierig ist, mit Falschinformationen umzugehen. In unserer Befragung zur professionellen Gesundheitskompetenz geben Ärzte an, dass ihnen das Handwerkszeug dafür fehlt. Das ist auch logisch: Sie müssten nicht einzig richtigstellen, sondern einen Umlernprozess initiieren – das erfordert aber bedeutende kommunikative und edukative Fähigkeiten, die man gezielt erlernen muss.
Haben Sie Tipps, wie Praxisteams Fehlinformationen begegnen können?
Allgemeingültige Tipps gibt es hierfür nicht. Sicherlich ist es aber hilfreich, mit ergänzenden Materialien zu arbeiten und beispielsweise schriftliche Patienteninfos bereitzuhalten oder über gängige Themen im Wartezimmer aufzuklären.
Das klingt nach einem hohen Investment durch Hausärztinnen und Hausärzte, das sich langfristig auf eine gesamtgesellschaftlich verbesserte Gesundheitskompetenz auszahlen könnte…
Ja. Wenn ich möchte, dass der Patient adhärent ist und mitarbeitet, muss ich ihn dazu auch befähigen. Das ist nicht mit sparsamen Worten wie zum Beispiel “Nehmen Sie die Tablette 3x täglich ein.” getan. Er muss verstehen, warum die Medikamenteneinnahme wichtig ist und wie er sie beispielsweise in seinem persönlichen Alltag routinisieren kann.
Hausärzte müssen den Patienten zu ihrem “Co-Produzenten” machen, sie müssen den Patienten an ihre Seite holen. Nur das bringt Erfolge – kurzfristig in Form eines Therapieerfolgs und langfristig in Form einer verbesserten Gesundheitskompetenz. Aber das kostet Zeit, und die ist im Praxisalltag bekanntermaßen knapp.
Viele Hausärztinnen und Hausärzte machen das hervorragend und nehmen sich diese Zeit, andere – oft hochspezialisierte – Bereiche der Medizin sind hingegen oft noch immer nahezu kommunikationsfrei. Das müssen wir ändern und endlich zu einer sprechenden Medizin kommen, wie sie vor vielen Jahren schon gefordert wurde. Dazu müssen wir Patientinnen und Patienten ernst nehmen und zu “Co-Produzenten” oder Kooperationspartnern machen.
Besonders problematisch ist die sogenannte navigationale Gesundheitskompetenz (NGK), also die Fähigkeit von Menschen, sich im Gesundheitssystem zurechtzufinden und entsprechende Informationen zu verstehen. Sie verharrt weiterhin auf überaus schwachem Niveau (82 Prozent geringe NGK, zuvor 82,8 Prozent). Damit einher geht beispielsweise das unkoordinierte Aufsuchen von Notfallambulanzen oder “Fachärzte-Hopping”. Warum ist dieser Wert schwieriger zu verändern?
Unser Gesundheitssystem ist komplex – und es wird immer komplexer. Seit Jahren wird darüber diskutiert, dass hoher Reformbedarf herrscht und auch, dass wir ein übersichtlicheres, transparenteres und nutzerfreundlicheres Gesundheitssystem benötigen. Doch das wurde lange Zeit überhört. Wenn Reformen durchgeführt werden, ist das in Deutschland oft gleichbedeutend damit, dass zusätzliche Strukturen aufgebaut werden. Da ist es nicht erstaunlich, dass Menschen Probleme haben, sich zurechtzufinden. Andere Länder sind deutlich schlanker aufgestellt.
Quelle Grafiken: HLS GER 3, 2025, Zusammenfassung Zwischenstand abrufbar unter www.hausarzt.link/6UJWF
Kann die im Koalitionsvertrag geplante Einführung eines Primärarztsystems helfen, Menschen besser durch das System zu lotsen?
Unbedingt. Ein Primärversorgungssystem könnte Menschen die Orientierung erleichtern. Aus unserer Sicht liegt der Vorteil darin, dass viele Dienste unter einem Dach gebündelt sind und Patientinnen und Patienten dort eine umfassende Versorgung erhalten, aber nur eine Stelle anlaufen müssen. Denn neben Hausärztinnen oder Hausärzten ist dort ein multiprofessionelles Team tätig. International gehört in solchen Primärversorgungszentren übrigens die Förderung der Gesundheitskompetenz explizit zum Aufgabenspektrum.
…und diese Aufgabe müsste nicht der Arzt selbst übernehmen, sondern könnte beim Team angesiedelt sein. In Deutschland gibt es dafür ja bereits erfolgreiche Konzepte wie Versorgungsassistenzen in der Hausarztpraxis (VERAH) oder Primary Care Managerinnen (PCM).
Genau. International werden solche und andere Aufgaben meist durch “Advanced Practise Nurses” abgedeckt, teils mit weiteren Spezialisierungen wie “Diabetes Nurses” oder “Mental Health Nurses”. Sie arbeiten sehr eng mit den Ärzten zusammen und können einerseits eine Entlastung für Ärzte sein; andererseits erweitern sie das Angebot und verbessern langfristig die Gesundheitskompetenz.
Quelle Grafiken: HLS GER 3, 2025, Zusammenfassung Zwischenstand abrufbar unter www.hausarzt.link/6UJWF