Hausärztinnen und Hausärzte übernehmen bei der Versorgung depressiver Störungen in der Regel weit mehr als nur eine koordinierende und betreuende Funktion. Dieser Beitrag fasst Praxisrelevantes zu
Diagnostik und Therapie zusammen.
AUTOREN: Dr. Ulrich Scharmer (Interessenkonflikte: keine), Dr. Reinhard Merz (Interessenkonflikte: keine), Dr. Mana Schmidt-Hagiri (Interessenkonflikte: keine)
Gültig bis 24. April 2026
VNR: 2760909014415180017
4 CME-Punkte
Die Bayerische Landesärztekammer hat diesen Beitrag in der Kategorie I zur zertifizierten Fortbildung freigegeben.
Lernziele
Nach der Lektüre dieser CME-Fortbildung sollten Sie …
… den diagnostischen Prozess bei Verdacht auf eine depressive Störung kennen.
… wissen, was es in Bezug auf Suizidalität zu beachten gilt.
… den therapeutischen Algorithmus kennen.
… über die Grundsätze der Pharmakotherapie und die wichtigsten Antidepressiva informiert sein.
… nichtmedikamentöse Therapiemaßnahmen kennen.
Einführung
In der DEGS-Studie wurde die Häufigkeit einer unipolaren Depression bei Erwachsenen in der deutschen Allgemeinbevölkerung im Zeitfenster von 12 Monaten auf 8,2 % geschätzt. Das entspricht etwa 5,3 Millionen Betroffenen [1], [2]. Hausärzte übernehmen bei der Versorgung depressiver Störungen in der Regel weit mehr als nur eine koordinierende und betreuende Funktion. Da eine kurzfristige psychotherapeutische bzw. psychiatrische Behandlung oft nicht verfügbar ist, wird die Mehrheit aller ambulanten depressiven Patienten ausschließlich hausärztlich behandelt [3].
Epidemiologie
Depressive Störungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Laut WHO liegt die Lebenszeitprävalenz zwischen 10 % und 15 % [4]. Mit einer 12-Monats-Prävalenz von 6–8 % gehören depressive Erkrankungen zu den aus epidemiologischer Sicht wichtigsten Erkrankungen überhaupt [2], [5].
Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer, was teilweise auf hormonelle, genetische und psychosoziale Unterschiede zurückgeführt werden kann [6]. Auch leiden Frauen häufiger unter begleitenden Ängsten. Andererseits sind die Suizidraten für Männer um das 3- bis 5-Fache höher und bei ihnen zählt Alkoholabusus zu den häufigsten Begleiterkrankungen.
Bei Männern und Frauen gibt es verschiedene Symptommuster der Depression. Hinweise auf eine männer- und eine frauenspezifische Depression sind allerdings bisher widersprüchlich. Die sozial vermittelten Geschlechterrollen, die mit biologischen Faktoren auf komplexe Weise interagieren, beeinflussen bei Männern und Frauen das Erkrankungsrisiko, das Krankheitsverhalten und die Bewältigung der Depression [7].
Neben dem Geschlecht spielen auch das Alter und der sozioökonomische Status eine wesentliche Rolle [8]. Depressive Störungen können in jedem Alter auftreten, zeigen jedoch eine bimodale Verteilung mit Spitzen in der Adoleszenz und im mittleren Erwachsenenalter [9]. Ein niedriger sozioökonomischer Status ist mit einem höheren Risiko für depressive Störungen assoziiert, was durch erhöhte Belastungen und begrenztem Zugang zu Gesundheitsressourcen erklärt werden könnte [10].
Während der Covid-19-Pandemie waren deutliche psychologische und soziale Auswirkungen des Lockdowns zu beobachten. Analysen zur psychischen Gesundheit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland (Geburtsjahrgänge 2001–2003) zeigten einen deutlichen Anstieg depressiver Symptome: Vor dem Lockdown hatten 10,4 % klinisch relevante depressive Symptome [95 %-KI: 8,4–12,5], im Frühjahr 2020 stieg dieser Anteil auf 25,3 % [95 %-KI: 22,4–28,2]. Das Risiko, depressive Symptome zu entwickeln, war bei weiblichen Jugendlichen und jungen Frauen erhöht. Ein Migrationshintergrund zeigte sich als ein ähnlich starker Risikofaktor: Die Prävalenz depressiver Symptome stieg bei Migrationshintergrund von 11 % auf 33 % [11].
Ätiologie
Die Ätiologie depressiver Störungen ist vermutlich multifaktoriell und umfasst genetische, biologische, psychologische und umweltbedingte Faktoren. Zu den wichtigsten Risikofaktoren zählen:
Genetische Prädisposition: Studien weisen darauf hin, dass etwa 30–40 % der Varianz in der Anfälligkeit für Depressionen genetisch bedingt sein können [12].
Veränderungen in der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse, „Stressachse“).
Biologische Faktoren: Veränderungen in der Neurotransmitterbalance (z. B. Serotonin, Noradrenalin) sowie strukturelle und funktionelle Anomalien im Gehirn (z. B. im präfrontalen Cortex und Hippocampus) können eine Rolle spielen [13].
Psychosoziale Determinanten: Das Risiko für psychische Erkrankungen wird durch das Erleben von traumatischen Ereignissen, anhaltenden Stresszuständen, Erfahrungen von Missbrauch in der Kindheit sowie durch das Fehlen adäquater sozialer Unterstützungssysteme signifikant erhöht [14].
Komorbiditäten: Depressionen treten häufig gemeinsam mit anderen psychischen Erkrankungen (z. B. Angststörungen) und körperlichen Erkrankungen (z. B. kardiovaskulären Erkrankungen) auf, was die Prognose und den Krankheitsverlauf verschlechtert [15].
Symptomatik
Die Symptome depressiver Erkrankungen werden in drei Kategorien unterteilt [16]:
Psychische Symptome mit gedrückter Stimmung, Interessenverlust/Freudlosigkeit, vermindertem Antrieb, verminderter Konzentration und Aufmerksamkeit und vermindertem Selbstwertgefühl sind die Hauptsymptome, ferner Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit, negative und pessimistische Zukunftsperspektiven, Suizidphantasien/‑handlungen, Libidoverlust, Grübeln, Einengung der Wahrnehmung, Wahn, fehlende oder eingeschränkte Krankheits- und Behandlungseinsicht, das Gefühl der Gefühllosigkeit sowie Unruhe und Getriebenheit.
Psychomotorische Symptome können sowohl zu Verlangsamung führen als auch zur Agitiertheit.
Somatische Symptome umfassen Schlafstörungen, körperliche Abgeschlagenheit, verminderter Appetit, Verdauungsbeschwerden, funktionelle Störungen von Herz und Kreislauf, Atemstörungen, diffuse Kopfschmerzen, Kraft- und Energielosigkeit mit Tagesschwankung sowie sexuelle Störungen.
Einteilung von Depressionen
Depressionen verlaufen oft episodisch und können auch ohne Behandlung von selbst zurückgehen [17], [18]. Als chronisch wird eine Depression bezeichnet, die durchgehend seit mindestens 2 Jahren besteht. Kehren depressive Episoden mehrfach wieder, spricht man von einer rezidivierenden Depression. Der klinische Verlauf unipolarer depressiver Störungen (monophasisch, rezidivierend, andauernd bzw. persistierend), der Schweregrad und die psychischen Begleitsymptome werden auf der Grundlage der ICD-10 erfasst. Die Spezifizierung hat Konsequenzen für den Behandlungsverlauf [21], [22].
Diagnostik
Viele depressive Patienten klagen vorwiegend über unspezifische körperliche Beschwerden. Der Verdacht auf eine Depression ergibt sich aus einer kombinierten Betrachtung von Stimmungslage, somatischen Beschwerden und Risikofaktoren für eine Depression. Zusätzliche Hinweise können das äußere Erscheinungsbild und das Interaktionsverhalten liefern. Bei Verdacht auf das Vorliegen einer depressiven Störung soll das Vorhandensein weiterer Symptome aktiv exploriert werden, etwa durch gezieltes Erfragen der Haupt- und Zusatzsymptome. Die NVL Depression führt dazu Beispiele auf [21] (Abb. 1, Tab. 1).